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Rezensionen / Buchbesprechungen

Wolfgang Kraushaar (Hg.) : Die RAF und der linke Terrorismus

Buchcover.

Wolfgang Kraushaar (Hg.) : Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburger Edition, Hamburg 2007, 2 Bände, 1415 Seiten, € 78,00.

Mit dem von Wolfgang Kraushaar heraus­gegebenen Doppelband über die RAF und den linken Terrorismus legt das Hamburger Institut für Sozialf­orschung eine Aufsatz­sammlung vor, die nicht weniger als den heutigen Forschungs­stand zu einem Phänomen deutscher Geschichte zusammen­tragen will. Mit 62 Beiträgen und zwei zusätzlichen Interviews erscheint hier der ambitionierte Versuch, dreißig Jahre nach dem Deutschen Herbst diese Geschichte nicht nur aufzuarbeiten, sondern sie zugleich bewerten zu wollen. [*]

Vorüberlegungen

Ein Phänomen wie die RAF erklärt sich nicht aus sich selbst heraus. Eine materialistisch orientierte Geschichts­schreibung muß demnach aufzeigen, aufgrund welcher historischen, politischen, sozialen und ökonomischen Konstellation eine radikale linke Position möglich wurde, die im Band einhellig als Terrorismus bezeichnet wird. Mehr noch: unterstellt, das Hamburger Institut für Sozial­forschung verfolgt mit dieser voluminösen Arbeit ein wissen­schaftliches Projekt, dann muß sich das wissen­schaftliche Herangehen an das zu unter­suchende Sujet auch der eigenen Grundlagen versichern. Bei diesem speziellen Teil der deutschen Nachkriegs­geschichte ist es zudem unerläß­lich, wenn sich die Autorinnen und Autoren selbst über ihr Verhältnis zur jüngeren deutschen Geschichte und zu ihrem Untersuchungs­gegenstand RAF im klaren sind. Diese Klarheit muß in den jeweiligen Beiträgen durch­scheinen, will die darin entwickelte Argumentation nicht ideologisch erscheinen, also im schlimmsten Fall als das, was in der Theorie­bildung der Studenten­bewegung als bürgerliche Wissenschaft bezeichnet und analysiert wurde. Bürgerlich ist in diesem Sinn eine Wissenschaft, die sich in den Dienst der herrschenden Klasse stellt und somit Teil einer Herrschafts– und Legitimations­wissenschaft wird.

Genau genommen müßte eine derartige wissen­schaftliche Heran­gehensweise sogar doppelt vorgenommen werden. Einerseits ist hierbei die RAF und das, was im Doppelband als Terrorismus bezeichnet wird, aus heutiger Perspektive zu betrachten. Wie sehen wir aufgrund heutiger Erfahrung, Kenntnis und Analyse die politisch-ökonomische Situation in der Bundes­republik Deutsch­land der 1960er und 1970er Jahre. Können wir die RAF als ein Phänomen betrachten, das dem damaligen Zeitgeist entsprach und damit historisch betrachtet materiell fundiert war? Können wir mit dem, wie wir heute – und das vielleicht auch noch sehr unter­schiedlich – Terrorismus definieren, das Phänomen des bewaffneten Kampfes in einer Metropolen­gesellschaft begrifflich fassen und analysieren? Sind die Protago­nistinnen und Protagonisten des damaligen Kampfes an ihrer Aufgabe gescheitert, weil sie unrealistisch war oder deshalb, weil vieles, was wir heute im Nachhinein sehen können, damals noch nicht zu sehen möglich war? Die zweite Sichtweise schließt sich daran an. Wie ist der bewaffnete Kampf im wichtigsten Industrie­land West­europas aus damaliger Sicht zu bewerten? Welche Möglich­keiten und Grenzen hatte die damalige Aufbruchs­bewegung, welche Motive und Interessen­lagen wurden durch sie artikuliert? Kurz: ohne eine genaue Reflexion über den damaligen wie heutigen Wissens­stand und eigenen politischen Standpunkt wie sozialer Zugehörig­keit ist ein solches Projekt nur schwerlich durch­führbar.

Erstaunlicherweise fehlen derartige Über­legungen in diesem Doppelband fast voll­ständig. Die Prämisse ist von vornherein klar gesetzt: es handelt sich um Terrorismus, weil wir schreiben, daß es sich um Terrorismus handelt. Punkt. Und aus dieser Sichtweise ergibt sich alles andere – mit erkenntnis­theoretisch fatalen, mit legitima­torisch hochgradig ideologischen Konsequenzen.

Nirgendwo scheint beispiels­weise der Versuch durch, die „erste Generation“ der Roten Armee Fraktion in dem ernst zu nehmen, was sie politisch proklamiert und persönlich gewollt haben. Von vornherein ist klar, daß es sich um eine Gruppe gehandelt hat, die einen Irrweg beschritten und im Grunde genommen nur die eigenen spät­pubertären Allmachts­phantasien mit der Knarre in der Hand ausgelebt hat. Angesichts dessen, daß zumindest in den ersten Aufsätzen – wo es um eine Begriffs­bestimmung des Terrorismus geht – noch eine Ahnung davon vorhanden ist, daß die Begriff­lichkeit des Terrors, des Terrorismus und des Terroristen immer auch eine Frage der Definitions­macht ist, fallen manche der in den beiden Bänden vorgetragenen Argumen­tationen sogar hinter die eigene Einsicht zurück, sofern wir die ersten sich am Begriff abarbeitenden Aufsätze als den Versuch begreifen wollen, Einsicht zu entwickeln und zu vermitteln.

Bei dem Projekt Die RAF und der linke Terrorismus – so könnte es zumindest erscheinen – geht es demnach nicht um eine wissen­schaftliche Aufarbeitung, sondern um eine historisierende Positions­bestimmung im Deutsch­land des beginnenden 21. Jahr­hunderts. Die mit diesem Deutsch­land verbundene Gesellschafts­ordnung wird nicht einmal mehr in ihrer Legitimität in Zweifel gezogen, womit der gesamte in diesen beiden Bänden dokumentierte Ansatz noch weit hinter die rudimentären Analysen und Erkenntnisse der Studenten­bewegung der 1960er Jahre zurückfällt. Dies ist umso ärgerlicher, als das Institut durchaus die intellektuelle Kapazität besitzt, Fragen zu stellen, welche die herrschende Geschichts­schreibung ansonsten eher umgeht. Damit wäre keineswegs irgendeine Form von Legitimierung oder gar Sympathie für die RAF oder – allgemeiner – die Politik des bewaffneten Kampfes verbunden.

Gliederung

Auf einen einleitenden Aufsatz des Heraus­gebers folgen elf Abschnitte zu jeweils einem Oberthema, das anschließend in Aufsätzen bzw. – im letzten Abschnitt – Gesprächen vertieft wird:

  1. Terrorismus.
    Hier geht es um Definitions­fragen, Begrifflich­keiten und eine Eingrenzung des Themas.
  2. Ideologien und Theorien: Das Konzept Stadt­guerilla.
    Hier werden die theoretischen Grundlagen und die politischen Vorbilder für die bewaffnete Politik der RAF und anderer Stadtguerilla­gruppen abgehandelt.
  3. Die RAF-Begründer und ihre Nachfolger.
    Biografisches zu Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Horst Mahler, Georg von Rauch und Thomas Weisbecker. Zudem werden hier (zum Teil auch nur angebliche) Erkenntnisse über die „drei Generationen“ der RAF vermittelt.
  4. Andere bewaffnete Gruppen in der Bundes­republik.
    In vier Kapiteln werden die Tupamaros West-Berlin, die Black-Panther-Solidaritäts­komitees, die Bewegung 2. Juni und die RZ vorgestellt.
  5. Die RAF – Faktoren und Dimensionen.
    Hier geht es eher um sozialwissen­schaftliche Aspekte, das Phänomen RAF in den Griff zu bekommen.
  6. Die internationalen Parallel­organisationen und ihre Vernetzungen.
    Hier geht es sozusagen um die terroristische Inter­nationale der 1960er und 1970er Jahre.
  7. Der Staat, die Polizei und die Justiz.
    Die Reaktionen des Staates auf eine Heraus­forderung, die angeblich nur eine kriminelle Dimension besaß.
  8. Terrorismus und Medien.
    Die Dialektik in der medialen Frage: wer braucht wen für welche Darstellung?
  9. Das Terrorismus-Phantom.
    Über Phantasmen, Faszinationen, Mythen, Propaganda und Vereinnahmung.
  10. Hypothesen.
    Hier werden Vermutungen in ein sozialwissen­schaftliches Gewand gekleidet.
  11. Nachfragen.
    Ein Interview mit Horst Herold und ein Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger.

Historisierung und die Suche nach der Wahrheit

Wolfgang Kraushaar als Herausgeber und Jan Philipp Reemtsma als Leiter des Instituts scheinen der Auffassung zu sein, es sei neun Jahre nach der Auflösungs­erklärung der RAF möglich, deren Geschichte historisierend aufzuarbeiten. Eine solche Aufarbeitung, wenn sie nicht bloß in psychologi­sierender Manier einzelne Charaktere beleuchten oder Politik­formen sezieren will, müßte die RAF in ihren genuinen historischen Kontext einbetten. Hierzu gehört eine Analyse dessen, was in den 1960er Jahren Spät­kapitalismus [1] genannt wurde, dazu gehört eine Auseinander­setzung mit der Funktion des bürger­lichen Staates im allgemeinen und der bundes­republikanischen Nachkriegs­ordnung im besonderen. Wissen­schaftlich wäre eine solche Arbeit, wenn sie sich nicht der bürger­lichen Ordnung verpflichtet fühlte, sondern – sozusagen mit den Augen eines Betrachters von außen – sich darum bemüht heraus­zuarbeiten, ob und inwieweit die Politik des bewaffneten Kampfes eine womöglich illegitime Herrschaft wider­spiegelt. Dies ist deshalb notwendig, weil eine Auseinander­setzung mit der kapita­listischen Gesellschafts­ordnung immer auch die Möglich­keit und Notwendig­keit einer klassenlosen Gesell­schaft reflektieren muß.

Eine Auseinander­setzung mit den Grundlagen der bürger­lichen Gesell­schaft und der spezifischen Heraus­bildung bewaffneter Gruppen in den 1960er und 1970er Jahren wird jedoch in beiden Teilbänden ausgespart. Schon von daher ist es fraglich, ob die hiermit erarbeiteten Erkenntnisse tatsäch­lich geeignet sind, die Geschichte der RAF zu verstehen. Begleitet wird diese Frag­würdigkeit von einer ungenügenden Quellen­kritik. Wer eine Kritik an der RAF und dem linken Terrorismus auf der Basis der Aussagen von frühen (der 1970er Jahre) und späten (der 1990er Jahre) Kron­zeuginnen und Kronzeugen führt, muß begründen, warum diese Aussagen als wahr unterstellt werden können. Tatsäch­lich jedoch findet sich im gesamten Werk kein Hinweis darauf, weshalb diese Aussagen keiner Nach­prüfung bedürfen.

Ähnlich problematisch ist der Umgang mit den in ihren Urteilen festge­haltenen „Wahrheiten“ der erkennenden Strafsenate. Wer sich darauf verläßt, daß hier eine historisch verläß­liche Wahrheit fest­gestellt wurde, vergißt, daß ein Straf­prozeß allenfalls dazu geeignet ist, eine prozessuale Wahrheit festzustellen. Es ließe sich anhand einzelner Urteile sehr wohl zeigen, daß die in den jeweiligen Urteilen festge­schriebenen „Wahrheiten“ faktisch falsch sind. Im Falle des Urteils im Straf­verfahren gegen Birgit Hogefeld ist dieser Umstand geradezu eklatant [2]. Und dieses Urteil ist beileibe kein Einzelfall. Der Sozial­wissenschaftler Tobias Wunschik konnte bei der Abfassung seines Aufsatzes über die zweite Generation der RAF noch schreiben:

„Obwohl die Täter seinerzeit unbekannt bleiben wollten, sind die Anschläge und deren Hinter­gründe drei Jahrzehnte später vergleichs­weise gut erforscht. So sind die Tatbe­teiligungen der RAF-Angehörigen fast lückenlos aufgeklärt […].“ [Seite 472]

Wenige Monate nach Erscheinen des Doppelbandes fördert die Diskussion um die Begnadigung von Christian Klar das möglicher­weise von interessierten Behörden unterdrückte Wissen zutage, daß zumindest die „Wahrheit“ in Bezug auf die Tötung des General­bundesanwalts Buback (1977) anders aussieht, als sie prozessual ermittelt wurde [3]. Hier stellt sich zumindest die Frage, ob diese „Wahrheiten“ mangel­hafter Beweis­führung und Beweis­würdigung entspringen oder den erkennenden Staatsschutz­senaten eine wahrheits­produzierende Funktion im Sinne staatlicher Terrorismus­bekämpfung obliegt. Wer hingegen reflexhaft zusammen­zuckt und der RAF mangelnden Realitäts­sinn unterstellt, wenn diese von psycho­logischer Kriegs­führung und generell von Counter­insurgency [4] spricht, der oder dem fällt nun die ermittelte „Wahrheit“ auf die Füße.

Nun ist die Bundes­republik Deutschland nicht mit den USA zu vergleichen. Gerade aus den USA ist belegt, daß staatliche Behörden eine entsprechende Kriegs­führung gegen den inneren Feind offensiv betrieben haben und dabei auch vor politischem Mord, bewußt falschen Anschuldi­gungen und gezielter Desin­formation nicht zurück­geschreckt sind. Hier ist das mittels des Freedom of Information Act dokumentierte Handeln von FBI und anderer Polizei­behörden im Rahmen des Cointelpro-Programms aktenkundig [5]. Auch hier wäre die Frage zu stellen, ob es sich um einen politischen Sonderfall in den USA oder um einen verallge­meinerbaren Alltag der global-kapita­listischen Politik handelt. Mit Verweis auf das präventiv anti­subversive und zumindest in der Tendenz terroristische NATO-Projekt „Gladio“ [6] und die notorischen Aktivitäten der CIA [7] sollte dies zumindest zum genaueren Nach­denken hierüber anregen.

Der schon genannte Tobias Wunschik unterhält sich ganz zwanglos mit Peter-Jürgen Boock [8], der bekanntlich alle paar Jahre eine neue Version seiner Geschichte und die der RAF präsentiert [9], oder verweist zum Beleg seiner Erkenntnisse auf seine eigenen Mitschriften in den Verfahren gegen die 1990 in der DDR festge­nommenen ehemaligen RAF-Mitglieder [10]. Mit derselben Methodik könnte ich problemlos das 1996 ergangene Urteil gegen Birgit Hogefeld mit Bezug auf meine Mitschriebe als grandiose Fehl­leistung bezeichnen [11]. Wolfgang Kraushaar schreibt hingegen ungeniert bei Butz Peters ab, der sich wiederum ein Urteil des OLG Frankfurt zunutze macht, wonach Birgit Hogefeld den GI Edward Pimental aus einer Wiesbadener Diskothek gelockt haben soll, der in derselben Nacht gezielt durch ein RAF-Kommando hingerichtet wurde [12]. Wer diesem Prozeß beigewohnt hat, kann bestenfalls festhalten, daß der erkennende Strafsenat eine „Wahrheit“ konstruiert hat, die sich nur durch das gezielte Verbiegen von Zeuginnen– und Zeugen­aussagen herstellen ließ.

Gerade von einem in linker Repressions­geschichte bewanderten Autor wie Kraushaar wäre mehr kritische Distanz zu derart produzierten Urteilen zu erwarten gewesen. So wußte er durchaus den von ihm gemeinsam mit Jan Philipp Reemtsma interviewten ehemaligen BKA-Präsidenten Horst Herold zu korrigieren, als dieser sich in nebulösen Zahlen­angaben verirrte [13]. Im übrigen ist das Herold-Interview ein geradezu klassisches Beispiel dafür, wie viel Unsinn selbst heute noch über die RAF in die Welt gesetzt wird. [14]

„Da die Täter, deren Fotos in allen Ecken hingen, es kaum wagen konnten, selbst einzukaufen, muss ein großer Beschaffer­kreis unterstützend am Werk gewesen sein.“ [Seite 1383]

Mit solcherlei unwider­sprochen produzierten „Wahrheiten“ kann man zwar Zahlen generieren, kommt den Tatsachen jedoch nicht näher. Eva Haule hat beispiels­weise einmal darauf hingewiesen, daß sie durch Stuttgart spazieren konnte und selbst von ihren ehemaligen engen Freundinnen aus der antiimperia­listischen Szene nicht wieder­erkannt wurde. Birgit Hogefeld hatte kein Problem damit, sich in einem öffent­lichen Schwimmbad aufzuhalten, ohne befürchten zu müssen, erkannt zu werden. Ganz offensicht­lich macht sich der Herr Herold ein vollkommen falsches Bild vom Untergrund, weil er es einfach nicht begreifen kann, daß Menschen trotz seiner geliebten Raster­fahndung und der allgegen­wärtigen Kontroll­maßnahmen frei herumlaufen können, ohne sich in anonymen Hoch­häusern oder im Ausland zu verschanzen. Dem ist hinzuzu­fügen, daß Eva Haule beim Eisessen in Rüssels­heim aufgeflogen ist, jedoch nicht, weil ihr Gesicht auf einem Fahndungs­plakat erkannt wurde, sondern weil sie sich auffällig geheimnis­voll tuschelnd verhielt. Dies geschah allerdings nicht 1985, wie der Politik­wissenschaftler Alexander Straßner ausführt, sondern ein Jahr später. [15]

Wahrheitsproduktion ganz eigener Art findet sich auch bei Susanne Bressan und Martin Jander, wenn sie das Buchstaben­ballett auf dem Kurfürsten­damm nach dem Tod von Benno Ohnesorg für den Rücktritt des Regierenden Bürger­meisters Heinrich Albertz ursächlich machen. Daraus ließe sich der Schluß ziehen, daß manche politische Prozesse zäh sind, denn das „Ballett“ wurde am 10. Juni 1967 „aufgeführt“, während Albertz erst am 26. September zurücktrat, als es offen­sichtlich und nicht mehr zu bemänteln war, wie sehr der Polizei­apparat in die Ereignisse während des Schah-Besuchs verstrickt war. [16]

Angesichts dieser wirklich seltsamen „Wahrheit“ fällt es fast schon nicht mehr ins Gewicht, daß Bressan oder Jander die simple Kultur­technik des Abschreibens nicht allzu gut beherrschen. Auf Seite 423 nehmen sie in Anmerkung 182 die Aussage eines „Karl-Heinz Dellwo“ zum Anlaß, die im übrigen nur behauptete und nirgends nachge­wiesene Geschichte des Waffen­transports in das Stammheimer Hochsicher­heitsgefängnis zu belegen. Sie verweisen hierbei auf das Stammheim-Buch von Pieter Bakker-Schut [17]. Hätte eine oder einer der beiden genauer gelesen, dann hätten sie bemerkt, daß nicht von Karl-Heinz, sondern von seinem Bruder Hans-Joachim die Rede war. Diese Verwechslung ist zwar schon seit drei Jahr­zehnten immer wieder anzutreffen, aber von einer Autorin und einem Autor, die sich wissen­schaftlich mit der RAF beschäftigen, muß ich erwarten können, daß sie ihr Thema auch beherrschen, zumal es bei Pieter Bakker–Schut richtig steht.

Definitionsfragen

Wenn ich so ausführlich auf die metho­dischen Grundlagen einer solchen Arbeit eingehe, dann deshalb, weil sich im Anschluß daran zeigen läßt, wie „schwach auf der Brust“ manche der abgedruckten Aufsätze sind. Wenn es jedoch nicht das Ziel dieses Doppel­bandes war, so etwas wie eine wissen­schaftlich fundierte „historische Wahrheit“ herauszu­arbeiten, dann stellt sich die Frage: wer ist der Adressat, wem wird hiermit zugearbeitet, welches außer­wissen­schaftliche Interesse drückt sich hierin aus? Fragen, auf welche die Aufsätze und Gespräche zunächst einmal keine Antworten liefern. Diese Antworten zu finden und zu verstehen, bleibt letztlich denen vorbehalten, die sich durch die über 1400 Seiten gelesen haben (und wer tut das schon?) oder die gezielt nach Antworten in einem Detail­bereich dieses Mammut­werkes gesucht haben. Woraus folgt: das Werk ist zitierfähig, solange die wissen­schaftlichen Standards nicht in jedem einzelnen Fall befragt werden. Und wer fragt danach heute noch ernsthaft im kapitalistisch durch­gestylten Wissenschafts­betrieb, in dem es weniger auf die Wahrheit ankommt und es vielmehr um die Verkäuf­lichkeit der Ware Wissen­schaft geht?

Eine Besprechung dieses Mammutwerkes kann, soll sie sich nicht in Allgemein­plätze flüchten, nur eine – zugegebener­maßen willkür­liche – Auswahl aus der Gesamt­thematik sein. Dennoch sollte grund­sätzlich die anfangs formulierte Kritik am wissen­schaftlichen Vorgehen auch in den Einzel­beispielen wieder­zufinden sein. Diese Beispiele sind also pars pro toto zu verstehen; die kritischen Punkte müßten sich auch in den anderen Abschnitten erkennen lassen. Dies ist eine Aufgabe, die den Rahmen dieser Besprechung sprengen muß, möglich wäre eine derart textkritische Arbeit jedoch [18].

Der erste der beiden Bände beginnt mit einer Grundsatz­diskussion: was ist Terrorismus, worüber reden wir eigentlich? Und diese Fragen sind in der Tat nicht leicht zu beantworten. Immerhin ist es den Autoren – sie bestehen ohnehin insgesamt zu vier Fünfteln aus Männern – bewußt, daß der Teufel im Detail steckt und es letztlich eine aporetische Frage­stellung ist. Es gibt keine allgemein­verbindliche Auskunft, was insofern verständ­lich ist, weil es um Politik und nicht um Wissen­schaft geht. Ob es zur letztlich unbefrie­digenden Klärung dieser Frage wirklich rund 125 Seiten bedurft hätte, ist eine Frage, die sich vielleicht dadurch beantwortet, daß hiermit immerhin das Thema in seiner Vielschich­tigkeit umrissen wird. Unbefrie­digend ist die Angelegen­heit deshalb, weil keiner der vier Autoren die Sicht von außen zuläßt, die besagt, daß schon die bloße Existenz einer kapitalis­tischen Gesellschaft ohne Gewalt und Terror nicht vorstell­bar ist. Wenn jedoch alle Autorinnen und Autoren dieses Projektes staats­tragend sind und sich in der Argumen­tation an die Spielregeln des nicht nur wissen­schaftlichen Systems halten, dann ist es nicht von der Hand zu weisen, daß auch die Ergebnisse staats­tragend sind, nichts­destotrotz deshalb nicht unbedingt wahr.

Nehmen wir als Beispiel den Aufsatz Guerilla­krieg und Terrorismus – Begriffliche Unklarheit mit politischen Folgen des Politik­wissen­schaftlers Herfried Münkler. Er versucht hierin nicht nur, den Guerilla­krieg vom Terrorismus zu scheiden, sondern auch, Terrorismus von kriminellem Handeln abzugrenzen. In Theorie und Praxis sozial­revolutionärer Kämpfe war es bis in die 1960er Jahre weltweit unbestritten, daß ein Revolutionär sich vom Kriminellen zu unter­scheiden habe. Dies ergibt durchaus Sinn, denn der Revolutionär handelt nicht aus eigen­süchtigen Motiven, sondern um einer gemeinsamen Sache willen. Deshalb sind Diebstahl und Gewalt­anwendung verpönt, sollen aus Partisanen nicht Banditen werden. Eine revolutio­näre Bewegung will sich schließlich positiv von denjenigen unterscheiden, die sie bekämpft.

Nun findet sich zu Ende der Studenten­bewegung in der Bundes­republik Deutsch­land gerade bei den zukünftig bewaffnet Kämpfenden ein eigenartiger Gedanken­gang. Sowohl Horst Mahler als auch Ulrike Meinhof, so der Autor, verwischen mit ihren Äußerungen diese eigentlich bislang klare Scheidung zwischen revolutio­närer Politik und Kriminalität. Bei Ulrike Meinhof heißt es: „Die Revolution ist bereits ausgebrochen! Die Massen haben sich bereits von der herrschenden kapitalis­tischen Eigentums­frage bewußtseins­mäßig emanzipiert. Sie klauen. Sie klauen massenhaft in den Waren­häusern. Sie klauen massenhaft in den Betrieben.“ [19]

Doch anstatt, daß der Autor kurz innehält und begreift, daß Eigentum Diebstahl ist, Diebstahl übrigens im Marx'schen und nicht im Proudhon'schen Sinn, wundert er sich. Er bemüht sich deshalb, das Eigentum mit Verweis auf Kant zu verteidigen, weil es ja nicht sein kann, daß jemand sich mittels Diebstahls individuell bereichert. Die Intention des Gedankens von Ulrike Meinhof, der innerhalb der Studenten­bewegung durchaus verbreitet war, geht jedoch über diesen individuali­sierenden Aspekt hinaus. Es geht ihr ja nicht darum zu begründen, weshalb sich „die Massen“ gegenseitig beklauen dürfen, sondern darum, darauf hinzuweisen, daß diese Massen sich (kollektiv) nur das zurück­holen, was ihnen (als Klasse) oder ihren Vorfahren abgepreßt wurde. Ob dieses Handeln wirklich revolutionär ist, mag offen bleiben. Es handelt sich jedoch um eine im Spät­kapitalismus mögliche Strategie, sich das zu nehmen, was ohnehin im Überfluß vorhanden ist und „den Massen“ vorenthalten wird. Diese Form kriminellen Handelns ist daher auch nicht mit Kant zu verwerfen – „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ –, sondern mit Marx (Retransfer akkumulierten Mehrwerts) zu begründen. Dies scheint jedoch über den Horizont des Autors hinaus­zugehen, der wohl nicht begreift, worauf Mahler und Meinhof hingewiesen haben.

Was kriminell ist, bestimmt sich nicht mit Verweis auf Immanuel Kant, sondern ist vorgegeben durch das Eigentums­verhältnis einer modernen kapitalis­tischen Gesell­schaft. Kriminell ist demnach das, was normativ als kriminell definiert wird. Deswegen ist auch jeder Versuch, ein Gen für kriminelles oder sonstig sozialab­weichlerisches Verhalten entdecken zu wollen, so verrückt, wie es diese Gesellschafts­formation mitunter ist. Somit hat Ulrike Meinhofs Bemerkung durchaus einen rationalen Kern, soweit es um die Wieder­aneignung des von der ausgebeuteten Klasse erarbeiteten Mehrwerts geht. Daß diese Logik nicht die der Autorinnen und Autoren des Doppel­bandes ist, versteht sich von selbst. Und genau hierin macht sich die Beschränkt­heit des damit verbundenen sozial­wissenschaftlichen Ansatzes bemerkbar. Mit Bezug auf Kant wird das bürgerliche Eigentum verteidigt, das zu beseitigen im Grunde das Motiv jeder anti­kapitalistischen Bewegung sein muß.

Verrücktheiten

Der zweite Abschnitt des Doppelbandes behandelt die ideologischen und theoretischen Vorläufer und Grundlagen des Konzepts Stadt­guerilla. Ob es uns dabei weiterhilft, wenn Wolfgang Kraushaar den Dezisionismus eines Carl Schmitt im Handeln der Roten Armee Fraktion wieder­finden will, ist zu bezweifeln. Weder die Studenten­bewegung, noch Rudi Dutschke, schon gar nicht die RAF bedurften des Ratschlags des ideologischen Begleiters des National­sozialismus. Der dem radikalen Teil der Studenten­bewegung eigene Voluntarismus ist eine genuine Praxis, die sich aus der Erkenntnis des Notwendigen herleitet und selbst­verständlich auch einer jugendlichen Unbekümmert­heit entspringt, die Welt unbedingt vor sich selbst retten zu wollen. Daraus kann man und frau jedoch keinen Vorwurf ableiten, weil ohne einen solchen Voluntarismus die Welt wahr­scheinlich immer noch im Zustand der klassenlosen Gesellschaft vor der Neolithischen Revolution verharren würde. Karl-Heinz Dellwo zu den Gewiß­heiten der Jugend:

„Mit 20 ist man in der Lage, bestimmte Dinge zu machen, man hat 'ne Gewiß­heit [über] das, was man machen will. Ich bin heute 55, ich kann heute hinter meine Erfahrungen nicht mehr zurück. Ich könnte zu dieser Radikalität nicht mehr. Um diese Radikalität, die wir damals entwickelt haben, dann braucht man natür­lich auch vielleicht sogar auch eine gewisse Unerfahren­heit, weil sonst könnten Sie diese Radikalität gar nicht sozusagen ausbilden.“ [20]

Der seiner Jugendzeit entwachsene Wolfgang Kraushaar übersieht dabei, daß seine Ablehnung des so fürchter­lichen Voluntarismus und der damit verbundenen unbedingten Entscheidung nichts anderes ist, als die (vor)herr­schenden Verhältnisse zu verab­solutieren. Es ist keine Frage, daß der so bestimmte bewaffnete Kampf seine eigenen Monster hervorbringt, aber auch ein Sozial­wissenschaftler wie Kraushaar sollte die Relationen im Auge behalten. Das Monster Kapitalismus bringt schließ­lich ganz andere mörderische Grotesken zuwege – und das jeden Tag und ohne daß der Heraus­geber sich ähnlich ereifert. Es ist einfach lächer­lich und bigott, der RAF ihre Opfer vorzuhalten, und gleichzeitig die Augen vor den alltäglich tödlichen Errungen­schaften einer zivilisierten Welt zu verschließen.

Die Opfer sind nicht einfach die Guten, auch wenn die Frage berechtigt ist, wer der RAF die Legitimation zum Töten erteilt hat. Wem gegenüber sollten sie Rechen­schaft ablegen? Selbst­verständlich ist es bedenklich, nur dem Lauf der Geschichte gegenüber verant­wortlich zu sein; dies führt zu einer moralischen Über­höhung, die immun gegen Selbst­reflexion macht. Andererseits hat Jan Philipp Reemtsma in einem anderen Zusammen­hang zumindest einen Hinweis darauf gegeben, wem gegenüber man in einer Situation rechenschafts­pflichtig ist, wenn man etwas tut, was notwendig erscheint, aber deshalb (straf­rechtlich) nicht richtig sein muß [21];. Bei ihm ist es die richterliche Über­prüfung in einem rechts­staatlichen Verfahren. Bleibt die Frage: wer richtet über revolutionäre Gewalt (und sei sie erst einmal nur als solche imaginiert)? Darauf gibt es bis heute keine Antwort.

Nun ist es zweifellos verdienst­voll, daß sich das Hamburger Institut für Sozial­forschung um die Erforschung der zivilisato­rischen Gewalt der mörderischen Moderne bemüht. Mir scheint dies jedoch eine Forschung zu sein, die zu ergründen sucht, ob und wie das Monster gezähmt werden kann, und nicht, ob und wie eine zivilisierte Welt ohne Monster zu erreichen ist. Der Versuch jedenfalls, sich von den Monstern zu befreien, kann nicht verwerflich sein; verwerflich ist es allerdings, die Folgen des eigenen Handelns im Rahmen der jeweiligen historisch möglichen Erkenntnis nicht genügend bedacht zu haben.

Wer hieraus ein Wahnsystem ableitet, macht es sich zu einfach. Wer psychologisiert, ohne die materiellen Grundlagen des angeblichen Wahnsinns zu begreifen, landet in ganz neuen Phantasmen. Etwa der Soziologe Heinz Bude in seinem Aufsatz „Erbschaft dieser Zeit“:

„Wer in der Nachfolge des National­sozialismus aufs Ganze geht, endet im politischen Wahnsinn. Hinter der Bewegung zur »Systemveränderung« sind die putschistischen Phantasien wild gewordener Klein­bürger zu entdecken.“ [Seite 1352]

Oder Jan Philipp Reemtsma, der diesen klein­bürgerlichen Spuk zu dechiffrieren sucht:

„Die Gewalttat verleiht dem Wahn Realität.“ [Seite 1367] – „Die Gruppe produziert die Umwelt, die sie braucht, um eine Gruppe zu bilden, die nicht komplett wahn­sinnig aussieht.“ [Seite 1368]

Devianz oder Revolte sind immer ein Merkmal des nicht Angepaßten, ob das nun klein­bürgerlich ist oder auch nicht. Nun will uns Jan Philipp Reemtsma sicherlich nicht erklären, daß die (vor)herr­schende Gesellschafts­ordnung vernünftig ist. Der Wahnsinn hat Methode und die Erkenntnis des Wahnsinns der modernen kapitalis­tischen Welt ist nun wirklich nicht neu – bemerkens­wert ist dennoch, mit welcher Emphase im gesamten Werk über die RAF und den linken Terrorismus immer wieder auf das Unvernünftige, ja Wahnhafte des untersuchten Phänomens hinge­wiesen wird. Nur – wo ist der Bezugs­punkt? Von welcher „wissen­schaftlichen“ Warte aus werden hier Grundsatz­urteile gefällt?

Heinz Bude schreibt ganz unbekümmert von Andreas Baaders „notorischer Asozialität“ [22]. Hier wäre es nützlich zu erfahren, was daran „asozial“ ist, sich dem Schulsystem zu verweigern, sich nicht als Lohnarbeiter ausbeuten zu lassen oder ohne Führer­schein in geklauten Autos durch die Gegend zu brettern. Die Werteskala dieser Bemerkung ist offen­sichtlich die gutbürger­liche Ordnung und diese ist sicherlich nicht entstanden in der Auseinander­setzung mit den Grotesken einer durch­kapitalisierten Welt. Das Baader-Bild, das hier gezeichnet wird, unterscheidet sich in nichts von dem Kolportage­roman, genannt „Biografie“, von Klaus Stern und Jörg Herrmann [23] oder der haltlosen Psychologi­sierung von Karin Wieland [24]. Gerade in ihrem Aufsatz wird deutlich, daß das Ergebnis schon vor der Analyse feststand. Wissen­schaftlich fundiert ist der Aufsatz jedenfalls nicht, allenfalls eine Aneinander­reihung von Vorurteilen und Phantasmen. [25]

Wissenschaftlich wäre gerade hier in biografischer Hinsicht, das Material danach zu betrachten und zu bewerten, ob es nicht auch andere Inter­pretationen zuläßt. Dieses Vorgehen wurde offen­sichtlich nicht einmal in Erwägung gezogen. Dabei ist es nun wirklich nicht schwer, die Geschichte von Andreas Baader selbst mit den rudimentären Zitat­schnipseln anders – und mindestens ebenso stimmig – zu schreiben als es die Autorin tut [26].

Es scheint so, als werden Symptome des Unver­nünftigen, die sich auch in der Politik der RAF finden lassen, benutzt, um hieraus ein System des Wahns zu konstruieren. Freilich ist festzu­halten, daß eine Politik des bewaffneten Kampfes, die nicht ihre eigenen Grundlagen schonungs­los analysiert und die bürger­lichen Elemente benennt (und bekämpft), immer wieder damit konfrontiert ist, denselben Mechanismen zu unterliegen wie die Gesell­schaft, gegen die sie sich wendet [27]. „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“, heißt es dann [28] – aber stimmt das wirklich? Wer die Texte der RAF und insbesondere die Auseinander­setzungen im info-System richtig liest und verstehen will [29], wird feststellen, daß hier zumindest der Versuch unternommen wurde heraus­zufinden, wie das richtige Leben im falschen organisiert werden kann. Die hierbei auftretenden Verding­lichungen sind auf der Grundlage des bestehenden Falschen unver­meidlich. Die Lesart dieser info-Texte [30] durch Jan Philipp Reemtsma und andere ist selbst­redend eine ganz andere; sie ist insofern zulässig, als sie die Problematik heraus­schälen könnte, die mit einem verdinglicht-radikalen Herangehen an die eigene bürger­liche Existenz verbunden ist.

Daß eine solche Gruppe ihre eigene Dynamik entwickelt und hierbei denselben Mechanismen verfällt wie jede andere sich abschottende Gruppe im „normalen Leben“ auch, sollte nicht verwundern. Wie schwierig es ist, aus einem solchen Denken wieder heraus­zukommen, zeigt das Anfang 2007 von Angelika Holderberg heraus­gegebene Buch Nach dem bewaffneten Kampf [31]. Es macht jedoch einen Unter­schied, ob ich diese Mechanismen denunzieren will, um zu zeigen, daß alles ein großer tragischer, ja größen­wahnsinniger Irrtum war, oder ob es darum geht, daraus zu lernen, wie man und frau es besser nicht macht – um in einem neuen Anlauf etwas anderes, besseres zu versuchen. Es betrifft ganz entscheidend das eigene Selbst­verständnis und das eigene Verständnis von dieser und das Verhältnis zu dieser Welt. Die RAF ist eben mehr als ein Studien­objekt für Sozialwissen­schaftlerinnen und Historiker, sie war eine praktische Heraus­forderung für den bundes­deutschen Staat und die sich an ihr abarbeitende Linke. Neun Jahre nach der Selbst­auflösung der Gruppe ist es vielleicht noch zu früh, um zu historisieren. Damit sind wir wieder mittendrin in der Frage­stellung: für wen ist dieses zwei­bändige Werk geschrieben worden? Und welche Funktion erfüllt es für die Herausgeber und Autorinnen und Autoren? Ohne in denselben psychologi­sierenden Duktus einzelner Beiträge verfallen zu wollen: die Frage nach der psycho­logischen Entlastungs­funktion stellt sich hier schon.

Autismus

Im Verlauf des den Doppelband abschließenden Gesprächs zwischen Jan Philipp Reemtsma, Wolfgang Kraushaar und Hans Magnus Enzens­berger verweist Letzterer auf eine Instabilität der Macht, die vielleicht doch nicht herbei phantasiert worden ist. Der Berliner Senat soll sondiert haben, was auf dem Verhandlungs­weg möglich sei:

„Man hat keinen Politiker vorgeschickt, sondern einen aus diesem Berliner Filz, der ein Angebot machte und die Frage aufwarf, ob man sich nicht einigen könne. Ich habe das selbst miterlebt. Es gab damals Pazifizierungs­angebote. In der Revolutions­geschichte gibt es ja den Begriff der Doppel­herrschaft. Davon war man natürlich noch weit entfernt, aber es war schon merkwürdig, was sich dort hinter verschlossenen Türen abspielte.“ [Seite 1406]

Nun verweist Enzensberger zurecht auf die besondere Situation Westberlins, weshalb er den Fall nicht verall­gemeinern will. Dennoch sollten wir als Symptome einer Verunsicherung der Macht­verhältnisse bedenken, daß 1968 nicht nur in Berlin stattfand. Der Vietcong lancierte die militärisch gescheiterte, aber politisch nachwirkende Tet-Offensive, in Frankreich kam es zum Generalstreik, bei dem es Präsident de Gaulle vorzog, sich vorsichts­halber ins Ausland abzusetzen, in Prag wurde ein Sozialismus mit mensch­lichem Antlitz antizipiert, in den USA brannten bei Ghetto-Aufständen die Innen­städte und in Berlin hatte der Senat offen­sichtlich kein Konzept, einer Bewegung beizu­kommen, welche die sozial verkrusteten Verhältnisse zum Tanzen brachte. Bemerkens­wert an diesem Gespräch ist der darauf folgende Einwand von Jan Philipp Reemtsma, der sich beeilt, die Darstellung Enzens­bergers zu entschärfen:

„Das ist schon skurril. Auf der einen Seite sprechen wir vom mangelnden Realitäts­sinn, der auf Seiten der Akteure herrschte, auf der anderen Seite, der staatlichen, so beginnen wir nun einzuräumen, herrschte aber offenbar ebenfalls ein mangelnder Realitäts­sinn. Das ist schon ziemlich merkwürdig, nicht zuletzt deshalb, weil das in dieser Zuspitzung nun selbst ganz neue Realitäten schaffen kann. […] Es geht um einen Umschlag der Macht­situation. Aufgrund ihrer Entschlossen­heit überschätzt die Mehrheit die Minderheit. Man spricht ihnen eine Rolle zu, die sie in Wirklich­keit gar nicht haben, aber im Zusprechen gewinnen sie diese Bedeutung und insofern entsteht dann tatsächlich – wie aus dem Nichts – eine Form der Doppel­herrschaft.“ [Seite 1407]

Als historisch bewanderter Wissen­schaftler hätte Reemtsma genauer hinschauen müssen. Wenn eine Situation aufgrund einer Fehlein­schätzung aus dem Ruder laufen kann, dann müssen vorher die materiellen Bedingungen hierfür gegeben sein. Dann wiederum entspringt die Fehlein­schätzung keinem Realitäts­verlust, sondern hat ihrerseits eine materielle Voraus­setzung. So gesehen haben wir hier den Fall eines subjektiven Faktors vorliegen, der eine objektive Tendenz von einer (relativ unwahr­scheinlichen) Möglich­keit in eine neue Wirklich­keit trans­formiert. Und jetzt die Frage: was ist dann noch so wahnhaft daran, sich quasi als Akteur einer historischen List zu fühlen und das zu versuchen umzusetzen, was realitäts­fremd erscheint, aber durchaus im Bereich des Möglichen liegt? Auch hier rächt sich nun das Fehlen einer Analyse der politischen, wirtschaft­lichen, sozialen Situation in den 1960er Jahren.

Hans Magnus Enzensberger verweist auf einen weiteren (angeblichen) Grundzug der Selbst­bezüglichkeit der RAF:

„Sie hatten nie eine Forderung, die irgendwie diskutabel gewesen wäre.“

Das mag sein. Aber ist deshalb die Forderung falsch?

„Politisch betrachtet war das eine reine Binnenwelt, ohne irgendeine Analyse der gesell­schaftlichen Situation,“

welche (also die Analyse) dem Doppelband gewiß auch ganz gut getan hätte

„gepaart mit einem völligen Realitätsverlust.“

Darauf ergänzt Wolfgang Kraushaar:

„Im Grunde genommen ist ihre Haltung also mehr oder weniger autistisch gewesen.“ [Seite 1392]

Worin der Realitäts­verlust besteht, darauf verweist Wolfgang Kraushaar schon zu Beginn des von ihm heraus­gegebenen Werkes:

Terrorismus ist politische Gewalt. Es ist ein Politikum, wenn auch ein äußerst zwie­schlächtiges. Denn einerseits ist terroristisches Handeln strikt unpolitisch. Ihm mangelt es an wesentlichen Elementen, die politisches Handeln in Demokratien auszeichnen: Öffent­lichkeit, Gewalten­teilung, Kompromiss­fähigkeit und anderes mehr. Andererseits ist terroristisches Handeln dennoch eminent politisch. Ohne seine politische Ausrichtung ist weder die Bestimmung des Gegners noch die Wahl der Kampf­methoden, weder seine Program­matik noch seine Strategie zu verstehen.“ [Seite 37]

Oder kurz: wer die parlamen­tarische Demokratie nicht anerkennt (Kraushaar benennt keine andere Form der Demokratie) und deshalb auch nicht bereit ist, sich im Kompromiß den Sach­zwängen dieser bürgerlichen Verkehrs­form zu unterwerfen, ist unpolitisch, realitätsfern, autistisch. Ist das so? Wolfgang Kraushaar argumentiert, als habe Johannes Agnoli nie seine Transformation der Demokratie [32] geschrieben, als habe es nicht praktische Beispiele (räte)demo­kratischer Politik ohne Gewalten­teilung gegeben, etwa die Pariser Commune von 1871 oder der Petrograder Sowjet von 1917. Natürlich ist es wirklichkeits­fremd, die bürgerliche Gesell­schaft und ihr formales Demokratie­verständnis durch etwas Besseres ersetzen zu wollen. Selbst­verständlich ist es unmöglich, Kompromisse mit der kapitalis­tischen Gesellschaft einzugehen, wenn man und frau sie als mörderisches Wahn­system begriffen hat – und ablehnt. Aber wem wäre hier der Vorwurf zu machen? Den Wirklichkeits­fremden oder denen, die sich in der Wirklichkeit zuhause fühlen?

Der spanische Philosoph Heleno Saña hat in seinem Buch Herrschaft ohne Moral die Herrschaft des Westens und ihre Grundlagen schonungslos bloßgestellt. Hierin hat er etwas aufgegriffen, was ich für bemerkens­wert halte, weil es die Wirklichkeits­ferne der herrschenden Klasse sehr gut zum Ausdruck bringt:

Die ganze Dynamik des Systems steuert auf einen totalen Bruch mit der gesamten Realität zu. Je konkreter die vom Kapitalismus selbst erzeugten Welt­probleme werden, desto abstrakter und weltfremder wird die kapitalis­tische Ideologie. Das neoliberale kapitalis­tische Modell entwickelt sich tatsächlich zu einem selbst­herrlichen Leviathan, der keine Rücksicht mehr auf die Bedürf­nisse des Menschen nimmt und nur die Umsetzung seines autistisch gewordenen Willens zur Macht ins Auge fasst. [33]

Insofern war der gesamte bewaffnete Kampf der RAF wirklichkeits­fremd, zumal wir heute besser wissen, welche Möglich­keiten es damals gegeben haben könnte, die Welt zum Positiven zu verändern. Ob allerdings alle Möglich­keiten genutzt worden sind, ist eine andere Frage. In gewisser Weise ist die RAF genauso gescheitert wie die gesamte Linke in ihren mannig­faltigsten Projekten und Projektionen. Es wäre zu einfach zu sagen, sie ist an den Verhältnissen gescheitert. Sicher ist sie auch daran gescheitert, daß sie war, wie sie war. Karl-Heinz Dellwo redet von Selbstver­dinglichung [34] und benennt hier die entfremdete Selbst­funktionalisierung für etwas, was als notwendig und richtig angesehen wurde. Der ursprüng­liche Impetus, die andere Gesell­schaft schon im eigenen Kampf leben zu wollen, ging hierbei verloren, auch wenn er nach außen immer wieder aufs Neue hoch­gehalten wurde. Nur – es war nicht dieser Gedanke falsch, das richtige Leben im falschen führen zu wollen, sondern die wohl zuwenig reflektierte eigene Geschichte und der eigene Umgang mit Anderen und vor allem mit sich selbst.

Der Unterschied der Positionen von Karl-Heinz Dellwo und Jan Philipp Reemtsma zeigt sich dann auch in der Schluß­folgerung:

„Unser Aufbruch war richtig. Es war ein Versuch, das Kontinuum des Bestehenden aufzusprengen.“ [35]

Man versteht nichts von der Geschichte der RAF, wenn man nicht insbesondere die Gewalt­lockung erkennt, die in der Idee eines nicht entfremdeten, authentischen Lebens liegt.“ [36]

Da beide Interpretationen der RAF und des „linken Terrorismus“ möglich sind, stellt sich die Frage: wessen Trugbild trügt hier wen? Ist die in zwei Bänden vorgelegte Sozial­wissenschaft „authentischer“ als die Reflexionen eines Insiders? Hierzu gibt es noch viel nachzu­denken, nicht zuletzt über die Begrifflich­keiten des von Wolfgang Kraushaar heraus­gegebenen Werkes hinaus.

Ist der zweibändige Sammelband für die Historisierung der RAF nützlich und für die wissen­schaftliche Forschung brauchbar? Das kommt auf den Standpunkt an. Wer sich in den Dienst der Terrorismus-Bekämpfung stellt, mag hier Einsichten gewinnen können, auch wenn es angesichts mitunter fehlender Reflexion über das Sujet auch um fehlerhafte Einsichten handeln mag. Wer hingegen die RAF als historisches Phänomen verstehen will, wird immer wieder mit den Unzuläng­lichkeiten der Darstellung, sowie den nicht ausge­sprochenen unwissen­schaftlichen Voraus­setzungen und ideologischen Befangen­heiten der Autorinnen und Autoren konfrontiert sein. Wer sich dieser Problematik bewußt ist, kann sicherlich einigen Gewinn aus dem von Wolfgang Kraushaar heraus­gebrachten Werk ziehen. Es kommt hier sehr auf das eigene Erkenntnis­interesse an.

Walter Kuhl
31. Mai 2007