Koreanische Schrifttafeln.
Reflexionen über die Änderung der Welt
Walter Kuhl
Koreanische Schrifttafeln.
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Rezensionen / Buchbesprechungen

Angelika Holderberg (Hg.) : Nach dem bewaffneten Kampf

Buchcover.

Angelika Holderberg (Hg.) : Nach dem bewaffneten Kampf, Psycho­sozial Verlag, Gießen 2007, 216 Seiten, € 9,90.

Jahrestage besitzen ihre eigene Verkaufs­struktur. Als ob es irgendwie von Belang wäre, ob zu einem definierten runden Jahrestag eine bekannte Person geboren wurde oder gestorben ist oder ob ein bestimmtes Ereignis (das als "Ereignis" stilisiert wird) statt­gefunden hat – und nicht zu einem anderen. Die Verkaufs­rhythmen im Kapitalismus messen sich an hype-baren Gegeben­heiten und nicht an der tatsäch­lichen Relevanz eines Themas.

Dieser Logik konnte sich auch der Psychosozial-Verlag nicht ganz verschließen. Und doch besitzt der von Angelika Holderberg heraus­gebrachte Band »Nach dem bewaffneten Kampf« eine ganz eigene Relevanz, die vollkommen unabhängig von jedem Jahrestag zu sehen ist. Der Band versammelt nicht weniger als den schwierigen Versuch, ein Vermächtnis aufzu­arbeiten; ein Vermächtnis, das insbesondere in den 1970er Jahren die Politik der Bundes­republik Deutschland maßgeblich mitbestimmt hat: der bewaffnete Kampf der Roten Armee Fraktion.

Der Deutsche Herbst des Jahres 1977, der in der Entführung des Arbeitgeber­präsidenten und Ex-Nazi Hanns-Martin Schleyer und der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut kulminierte und an dessen Ende drei Gefangene im sichersten Hochsicherheits­gefängnis der Welt in Stuttgart-Stammheim tot aufgefunden wurden, wird auch zu seinem 30. Jahrestag eine Fülle an neuer und wieder aufgelegter Literatur hervor­bringen. Die Ereignisse in Stammheim ziehen sich auch unter­gründig durch den Band, denn hieran knüpft sich nicht nur ein Glaubens­bekenntnis, sondern gleichsam eine Welt­anschauung, geradezu eine Trennungs­linie. Es geht um nicht weniger als um das Verhältnis zum bürgerlichen Staat und zur kapita­listischen Gesellschaft als solcher. Die Frage, ob es sich um Mord oder Selbstmord gehandelt hat, so zeigt sich im Band selbst, ist jedoch eine, die auch außerhalb eines Glaubens­bekenntnisses verhandelt werden kann. Was den Band vor allem auszeichnet, ist der Versuch, aus den eingefahrenen Denkstrukturen und Handlungs­mustern auszubrechen und aufzuzeigen, daß es noch etwas Drittes gibt. "Tertium datur!", erklärt deshalb auch der ehemalige Gefangene aus der Roten Armee Fraktion, Knut Folkerts, in seinem Statement.

Hinzufügen möchte ich, daß mir angesichts der geradezu hysterischen Stimmung im Land im Oktober des Jahres 1977 vollkommen klar war, was in Stammheim geschehen sein mußte. Insofern ist das Einfordern einer Gruppen­diskussion über die Geschehnisse in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1977 durch Karl-Heinz Dellwo sicherlich nicht nur innerhalb der (ehemaligen) Gefangenen­gruppe eine Provokation. Aber ist eine solche Frage­stellung deshalb gleich falsch, verräterisch und somit abzulehnen? Monika Berberich, eine der Co-Autorinnen, sagt hierzu an anderer Stelle:

„Viele GenossInnen meinen auch weiterhin, dass die Gefangenen von einer staatlichen oder staatlich gedeckten Stelle getötet wurden. Ich gehöre zu Letzteren. […] Gut, das ist meine Position, aber ich akzeptiere auch, wenn jemand von Selbst­tötung ausgeht. Denn ich bin sicher, dass sich nichts an der heutigen Misere der radikalen Linken ändern würde, wenn wir wüssten, was sich damals in Stammheim abgespielt hat. Es hätte auch damals nichts wirklich geändert. Wenn sich heute GenossInnen immer noch in die Haare geraten wegen Mord oder Selbstmord, ist das m. E. ein Symptom der Niederlage, ein Zeichen für die Schwäche der jeweiligen Politik: Man sieht die eigene politische Position bedroht.“ [1]

Therapieformen

Die Entstehung dieses Buches ist ungewöhn­lich und entspricht nicht den Konventionen üblicher Vorgehens­weisen. Dies ist dem Buch ganz sicher nicht schlecht bekommen, im Gegenteil – als Zeitzeugnis reicht es über die Bedeutung der 30-jährigen Selbst­vergewisserung heraus.

Im Frühjahr des Jahres 1996 fand in Hamburg ein Seminar mit dem Psychologen David Becker über die Folgen von Traumati­sierung statt. Von David Becker war einige Jahre zuvor das Buch „Ohne Hass keine Versöhnung“ erschienen, das die traumati­sierende Erfahrung von politischer Verfolgung in Chile beschrieb. Zu dem Seminar und einem im Herbst desselben Jahres nachfolgenden Vertiefungs­seminar kamen auch ehemalige politische Gefangene aus der BRD, weil sie hier ihre Erfahrungen von Isolations­haft einge­bracht wissen wollten. Aus diesem Seminar heraus bildete sich eine zunächst recht große Gruppe ehemaliger Gefangener und Psycho­therapeutinnen und Psycho­therapeuten verschiedener Richtungen, um die Folgen dieser speziell deutschen Form der Traumati­sierung aufzuarbeiten.

Dieses Gruppen­setting war ein Experiment ganz besonderer Art, denn es widersprach so ziemlich allen Regeln. Die ehemaligen Gefangenen sahen sich nicht als Kranke, die therapiert werden müßten, sondern als Opfer deutscher Knast­bedingungen. Die Therapeutinnen und Therapeuten konnten und durften somit nicht im gewohnten Rahmen ihrer ärztlichen Kunst handeln. Angesichts dessen, daß auch im real existierenden Kapitalismus radikale Systemkritik dem psychia­trisierenden Blick unterliegt, verbot sich eine Therapie mit klarer Zuweisung von "gesunden" Therapeuten und "kranken" Patientinnen von selbst. Ohnehin wäre zu fragen, was in einer strukturell krank machenden Gesellschaft noch als "krank" oder als "gesund" zu bezeichnen wäre. Demnach wäre dann auch eine Therapie kein Ausweis der Notwendig­keit der Behandlung einer "Krankheit", sondern ein Versuch, mit dieser verrückten Wirklichkeit besser klarzukommen. Als wenn dies nicht genug wäre, wurde der "therapeutische" Prozeß zusätzlich dadurch erschwert, daß die Therapeutinnen und Therapeuten aus verschiedenen Fach­richtungen kamen und somit auch sich zum Teil wider­sprechende Handlungs­konzepte bevorzugten.

Das größte Problem für dieses Gruppen­setting war jedoch eines, das den Therapeutinnen und Therapeuten zunächst nicht deutlich war: die seit 1993 bestehende Spaltung der Gefangenen und ehemaligen Gefangenen aus der Roten Armee Fraktion in – grob gesprochen – zwei Lager. Diese Spaltung mußte Auswirkungen auf den Verlauf der zumindest anfangs intendierten gemeinsamen Arbeit haben, weil die Aufarbeitung der Knast­erfahrungen auch eine Aufarbeitung der eigenen Rolle und Politik beinhalten mußte. Ein Teil dieser Gruppe hielt diese Konfrontation nicht aus und ging. Der Rest der Gruppe blieb weitgehend voll­ständig sieben Jahre lang zusammen. Das Buch „Nach dem bewaffneten Kampf“ ist eine Dokumentation dieser Gruppen­arbeit und vermittelt eine Ahnung von den Schwierig­keiten, offen und ehrlich mit der eigenen Geschichte umzugehen. Bis zum Schluß dabei geblieben waren aus dem größeren Kreis der Psycho­therapeutinnen und Psycho­therapeuten nur zwei Personen, beide psycho­analytisch ausgerichtet: Angelika Holderberg und Volker Friedrich. Und es waren diese beiden, ohne die das problematische Gruppen­setting wohl kaum durch­zuhalten gewesen wäre.

Ungewöhnliche Gruppe

Der Band „Nach dem bewaffneten Kampf“ ist kein Verlaufs­protokoll dieser siebenjährigen Gruppen­arbeit. Vielmehr reflektieren einzelne aus dieser Gruppe die Entstehungs­geschichte und die gemeinsame Arbeit an der Aufarbeitung von vielleicht drei verschiedenen Formen erlittener Trauma­tisierung. Zum einen ihre Knast­erfahrung, jahrelang (und das heißt zuweilen zwei Jahr­zehnte und mehr) unter Einzel- oder Klein­gruppen­isolation eingesperrt worden zu sein. Zum zweiten die Binnen­struktur der RAF bzw. des Gefangenen­kollektivs, die wenig Möglich­keiten eigener individueller Entfaltung zuließ – so zumindest ist es als Aussage einzelner ehemaliger Gefangener festzuhalten. Und drittens, was wir uns vielleicht viel zu wenig begreiflich machen: die Situation in wieder­gewonnener Freiheit unter den Bedingungen eines neoliberalen Raubtier­kapitalismus, welche sich in jeder einzelnen Lebens­handlung auswirkt. Eine Gruppen­teilnehmerin hat dies auch plastisch so ausgedrückt, zwar intellektuell diese Gesellschaft zu begreifen, aber sich emotional auf den Stand eines neun­jährigen Kindes zurück­geworfen zu fühlen, das mit dieser schier unbegreiflichen Welt nicht klarkommt.

Das Buch „Nach dem bewaffneten Kampf“ beinhaltet die nach Auflösung der Gruppe aufge­schriebenen Erfahrungen und Reflexionen der psycho­analytisch orientierten Therapeutin Angelika Holderberg und ihrer beiden Kollegen Volker Friedrich und Lothar Verstappen, sowie der ehemaligen Gefangenen Karl-Heinz Dellwo, Monika Berberich, Knut Folkerts, Ella Rollnik, Roland Meyer, und dann noch die von drei "Unterstützerinnen", von denen neben Irene Rosen­kötter zwei ungenannt bleiben wollten. Angesichts der immer noch aktiven Straf­verfolgungs­behörden und dem berechtigten Anliegen, die eigene Vergangen­heit nicht dem Voyeurismus zum Fraß vorwerfen zu wollen, eine sicherlich angemessene Entscheidung.

Bemerkenswert ist die Bereitschaft, die eigene politische Vergangen­heit kritisch zu beleuchten, auch wenn dies keine leichte Aufgabe gewesen zu sein scheint. Wobei hiermit keineswegs das Abschwör- und Unterwerfungs­interesse des Staates und seiner will­fährigen Medien bedient wird. Denn bei aller notwendigen und vielleicht noch nicht genügend radikalen Selbstkritik bleibt eine Aussage wichtig: die Entscheidung für den Versuch, die Verhält­nisse nicht nur hierzulande, sondern weltweit verändern zu wollen, war richtig. Roland Meyer:

„Das Projekt RAF ist gescheitert, vieles daran war falsch, manches unent­schuldbar. Dennoch war der Versuch in dieser Welt richtig. Und einiges wäre es wert für andere, neue Projekte aufbereitet und so bewahrt zu werden.“ [2]

Verantwortung

Es gibt die Tendenz, in der nach­träglichen Historisierung der Roten Armee Fraktion jeden politischen Gehalt absprechen zu wollen. Feder­führend hierbei ist das Hamburger Institut für Sozial­forschung um Jan Philipp Reemtsma und Wolfgang Kraushaar. Diese im Grunde absurde These wird nicht nur mittels des kleinen Bändchens „Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF“ und durch das zweibändige Großprojekt „Die RAF und der linke Terrorismus“ vertreten, sondern geradezu begierig im medialen Diskurs aufbereitet. Absurd ist diese These nicht nur wegen ihrer offen­sichtlichen Unhalt­barkeit. Ganz unabhängig davon, was wir vom theoretischen Gehalt der politischen Erklärungen der frühen RAF halten mögen, so spiegelt sich hierin ein Verständnis von Staat und Gesell­schaft wider, das sich nur unwesent­lich vom damaligen Mainstream der sich auflösenden Studenten­bewegung unterscheidet. Der einzige, vielleicht signifikante Unterschied liegt in der Radikalität und Unerbitt­lichkeit der damit verbundenen Konsequenzen. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer. Wer aufgrund einer radikalen Gesell­schafts­analyse und Gesellschafts­kritik zu dem Schluß kommen muß, diese Verhält­nisse sind nicht reformierbar und gleichzeitig unerträglich (und das sind sie für einen großen Teil der Menschheit mehr denn je), der oder die kann zu keinem anderen Schluß gelangen, diese Verhält­nisse auch radikal verändern zu wollen. Alles andere wäre unehrlich sich selbst gegenüber.

Diese existenzia­listische Einstellung hat die frühe RAF geprägt und zu unduldigen Konsequenzen auch in den eigenen Gruppen­zusammen­hängen geführt. Der damit verbundene Anspruch, nicht nur eine andere Gesell­schaft erreichen, sondern dies auch jetzt schon vorleben zu wollen, war ambitioniert und damals für viele (jugendliche) Menschen nachvoll­ziehbar, aber vielleicht gleichzeitig – in seiner Konsequenz – unreflektiert unrealistisch. Der Anspruch wurde jedoch schneller von der Wirklich­keit eingeholt, als den avantgar­distischen Protagonisten bewußt wurde. Karl-Heinz Dellwo spricht von der "Selbst­verdinglichung" und meint damit, die eigene Antriebskraft und Subjektivität dem gemeinsamen Kampf für Befreiung bedingungs­los unter­zuordnen. Was bleibt, ist eine Funktio­nalisierung, eine Politik der dritten Person, die das eigene Bedürfnis nach Befreiung unterordnet und damit relativiert. Es wird zu einer Anspruchs­haltung. "Das hohe Lied der Subjektivität und Kollektivität ist ein Zeichen für deren Abwesenheit", meint hierzu Knut Folkerts. [3] [Seite 141]

Ich glaube nicht, daß die im Band versammelten selbst­kritischen Reflexionen damit das zugrunde liegende Motiv der gesell­schaftlichen wie der damit verbundenen Selbst­befreiung leugnen. Das Motiv war und ist richtig, die Frage ist vielmehr, warum der Ansatz gescheitert ist. Die sieben Jahre des psychologisch begleiteten Gruppen­prozesses haben hier viele Fragen aufgeworfen oder schon vorhandene bestätigt, Fragen, die innerhalb des großen Kollektivs der RAF-Gefangenen nicht laut geäußert werden durften. Die damit verbundene Selbst­verleugnung war jedoch – und das darf hierbei nicht vergessen werden –, eine notwendige, geradezu überlebens­notwendige Strategie gegen die Isolations­haft­bedingungen. Und doch zeigt sich, daß die hierbei erworbenen Fähig­keiten, den repressiven Druck nicht nur auszuhalten, sondern ihm auch begegnen zu können, für das Leben außerhalb der Mauern vollkommen zwecklos sind. Die Dichotomie zwischen Gut und Böse, zwischen "Wir" und "Ihr" ist in dieser radikalen Konsequenz nicht nur sinnlos, sondern für jede menschliche und politische Handlung kontra­produktiv.

Natürlich haben sich in der Gruppen­diskussion auch die Fragen nach Schuld und Verantwortung gestellt. Das bürgerliche Bedürfnis, eine Schuld feststellen, sie womöglich gar aburteilen zu können, ist immens. Wenn Christian Klar Anfang des Jahres eine Gruß­botschaft an die Rosa-Luxemburg-Konferenz nach Berlin schickt, in der eigentlich selbst­verständliche Aussagen zum Zustand dieser Welt und der Notwendig­keit ihrer Veränderung geäußert werden, dann schäumt die Journaille. So jemand darf nicht begnadigt werden, denn er hat sich immer noch nicht der Wahrheit der kapitalistischen Gesellschafts­ordnung unterworfen: Widerstand ist zwecklos. Das nunmehr fast 25-jährige Konditionierungs­programm Isolations­knast hat bei ihm offen­sichtlich noch nicht gewirkt. Karl-Heinz Dellwo hat zu diesem Zusammen­hang von Reue und Unterwerfung in einem Funkhaus­gespräch des West­deutschen Rundfunks am 15. März 2007 klare Worte gefunden:

„Wenn ich mir die Diskussion der letzten Monate anschaue, dann ist die Forderung nach Reue nur der Maßstab dafür, wie weit unterwerfen die sich, wie weit machen die Kotau, wie weit dementieren die, daß sie einst mal radikale Gedanken hegten.“

Bemerkenswert sind auch die Äußerungen derjenigen, die 1977 selbst zu unfreiwilligen Teil­nehmerinnen und Teilnehmern der Auseinander­setzung zwischen der RAF und der Leutnants­generation im Staats­apparat geworden waren. Menschlich verständ­lich, aber im Einzelfall dennoch verlogen, fordern sie von anderen das ein, was sie selbst nie bereit waren und sind zu tun. Die Witwe von Hanns-Martin Schleyer beklagt den Tod ihres Mannes und fordert die Fortsetzung der Sühne. Als ob Hanns-Martin Schleyer ein unschuldiges Opfer gewesen wäre, das unerklärlicher­weise in den Fokus einer Auseinander­setzung geraten wäre. Gerade als seine Witwe müßte sie eigentlich ganz genau wissen, was ihr Gatte im und vor allem zu Ende des Zweiten Weltkrieges in der von Nazi­deutschland besetzten und ausgeplünderten Tschecho­slowakei angestellt hat. Sein Tod hat in der damaligen Tschecho­slowakei ganz sicher nicht zu Betroffen­heit geführt, sondern eher zu dem, was wir seit der bleiernen Zeit als klammheimliche Freude kennen; und diese Freude war wohl­begründet. Wer also von Schuld redet und deren Anerkenntnis von den (ehemaligen) Mitgliedern der RAF einfordert, sollte sich vielleicht einmal Gedanken über das eigene Handeln und die eigene Verantwortung für deren damaligen und derzeitigen Zustand dieser Welt machen. Das Einfordern eines Schuld­bekenntnisses stellt sich so betrachtet als die Bigotterie einer moralisch verlogenen Gesell­schaft dar. Und es war nicht zuletzt dieses Bigotterie, gegen die die erste Generation der RAF ihre Waffen erhoben hatte.

Die Frage, ob der bewaffnete Kampf in der Bundes­republik legitim, berechtigt oder realistisch war, ist durch die Fakten beantwortet. Aber so stellte sich die Frage 1970 nicht. Wenn eine Studie Anfang der 70er Jahre eine geradezu unerwartete Akzeptanz gezeigt hat, dann liegt hierin auch das berechtigte Motiv verborgen, sich den Verhält­nissen eben nicht nur mit Unterschriften­listen und Sitz­blockaden entgegen­zustellen, die wenig bewirken und die Lebens­verhältnisse außerhalb der Metropolen nicht verändern.

Die Rote Armee Fraktion war vom linken Mainstream gar nicht so weit entfernt, wie es uns die "geläuterten" Protago­nistinnen und Protagonisten von damals weis­machen wollen. Mehr noch: ohne diesen bewaffneten Kampf hätten sie wohl kaum die Chance erhalten, an der Staatsmacht partizipieren zu dürfen oder diesen Prozeß medial, intellektuell und moralisierend zu begleiten. Richtig ist auch, daß die Anziehungs­kraft der RAF sogar noch bis in die beginnenden 1990er Jahre größer war als es den Reemtsmas, Fischers, Kraushaars und Cohn-Bendits lieb sein dürfte. Jede bewaffnete Aktion der RAF, so merk­würdig das klingen mag, war für nicht wenige Menschen auch eine Ermutigung, sich im eigenen Leben nicht unterkriegen zu lassen. Nach dem Attentat auf Alfred Herrhausen im Dezember 1989 hing in einer süd­deutschen Kleinstadt ein Transparent aus dem Fenster, das diesen Zusammen­hang herstellte: "Die Völker dieser Welt atmen einmal tief durch."

Dieses Durchatmen, das auch hierzulande fühlbar war, ist angesichts feucht­fröhlich versteinerter Party­verhältnisse nicht wenig. Zugespitzt: ohne die RAF wäre Joschka Fischer nicht Außen­minister geworden und hätte einen Krieg mit entfesseln können, den er zwei Jahrzehnte zuvor noch mit mindestens Steinen in der Hand bekämpft hätte. "Ich weiß nicht, ob jemand mal versucht hat zu analysieren, welche politischen und gesell­schaftlichen Verän­derungen nun wirklich statt­gefunden haben aufgrund der Politik. Auch gescheiterte Aufstände haben Auswirkungen", schreibt eine der beiden ungenannt bleibenden Frauen. [4]

Wer von Schuld redet, windet sich um das Entscheidende herum: die Verantwortung für das eigene Handeln (oder Nicht­handeln). Und um diese Verantwortung geht es im Buch „&Nach dem bewaffneten Kampf“. Diese Verantwortung umfaßt mehr als nur die eigenen und die Toten der Gegenseite, sie umfaßt auch die Verantwortung dafür, warum aus der RAF etwas geworden ist, was den eigenen anfänglichen Zielen zuwiderlief: eine militaristische Politik, der der Aspekt der Befreiung verloren gegangen war.

Am sinnfälligsten wurde dieser Aspekt bei der Ermordung der US-amerikanischen Soldaten Edward Pimental 1985, um sich mit dessen Identitätskarte Zugang zur Rhein-Main Airbase zu verschaffen. Innerhalb der radikalen Linken entwickelte sich eine erregte Debatte über die Mittel des bewaffneten Kampfes; und ein Genick­schuß gehört sicherlich nicht zu einer auf Befreiung sinnenden revolutionären Moral. Deswegen war es wenig verwunderlich, wenn anfangs selbst treue Unter­stützerinnen und Unter­stützer der RAF nicht glauben wollten, daß diese Urheber der Tat war. Bemerkens­werter finde ich jedoch, daß die Art der Durch­führung der Aktion auf der Airbase so gut wie gar nicht thematisiert wurde. Eine Bombe, deren Wirkung mit Schrauben und Schrauben­muttern verstärkt wurde, gehört sicherlich ebensowenig zu den erstrebens­werten Mitteln militanter Politik. Soll heißen: die Verdinglichung, die Militarisierung der Politik war selbst in den Köpfen vorhanden, die einzelne Aspekte "übertrieben" fanden. So sehr unter­schieden sich RAF und "Szene" dann nun auch nicht voneinander; und selbst die klamm­heimliche Freude auf Seiten der etwas weniger militanten Linken war nicht zu übersehen. Man und frau mußte die RAF nicht lieben, aber auf ihre Aktionen wurde mit Sekt angestoßen.

Elemente bürgerlicher Befindlichkeiten

Ein wichtiger, aber sich in der Gruppen­diskussion erst mühselig heraus­schälender Aspekt betraf das Verhältnis zwischen Legalen und Illegalen, zwischen Unter­stützerinnen und Unter­stützern auf der einen und der Guerilla bzw. den Gefangenen aus der RAF auf der anderen Seite. Hier fand eine gegenseitige Funktiona­lisierung statt, die bis heute weitgehend unbearbeitet ist. Nicht nur, daß hiermit eine Hierarchi­sierung der Politik verbunden gewesen ist: die Guerilla als das höchste, das erstrebenswerte Ziel. Sondern hinzu kam eine Hierarchi­sierung in der "Szene" selbst. Wer Gefangene besuchte oder ihnen schrieb, gehörte zum erlauchten Kreis derjenigen, die in der Szene mehr zu sagen hatten als andere. Die Gefangenen benötigten ihre Besucherinnen und Besucher als eine Art "Nabel zur Welt", aber auch als Sprachrohr ihrer Gedanken und als Vermitt­lerinnen und Vermittler ihrer Politik. Das hatte durchaus etwas Funktionales, und dieses Funktionale spiegelte sich umgekehrt wider darin, daß manche der Unter­stützerinnen und Unter­stützer die Gefangenen als Legitimation ihrer eigenen Position in der unaus­gesprochenen Hierarchie militanten Widerstandes benutzen konnten.

Nun sind Hierarchien in linken Zusammen­hängen nichts Ungewöhn­liches; sie verweisen auf die Gebunden­heit an bürgerliche Strukturen und Verhaltens­weisen. Und doch war der Anspruch ja ein anderer, weswegen die Funktiona­lisierung der handelnden Personen ganz besondere Lebens­lügen hervor­gebracht hat. Diese im Gruppen­prozeß nicht nur zu thematisieren, sondern auch reflektiert anzugehen, ist sicherlich zu kurz gekommen. Hierin liegt ein Potential, das vielleicht grund­sätzlicherer Natur ist: Wie gehen Menschen miteinander um, deren gemeinsames Ziel eine Veränderung der bestehenden Verhält­nisse ist, deren Weg, deren Mittel und Vorstellungen sich jedoch unterscheiden mögen?

Wobei wir uns hier nichts vormachen dürfen: die Differenzen haben oftmals reale Grundlagen, die ein gemeinsames länger­fristiges Handeln ausschließen. Es gibt sie immer noch, die ruhigeren Nischen im Mainstream des Wahnsinns, und wer sollte es anderen verdenken, wenn sie lieber in der Nische als im Wahnsinn leben? Aber die Nischenkultur führt bestenfalls zur (kurzzeitigen) eigenen Selbst­verwirklichung, selten aber dazu, auch an diejenigen zu denken, die in aller Welt vielleicht keine Chance haben, überhaupt in einer Nische leben zu können. Die Rigorosität des dicho­tomischen Freund-Feind-Denkens der RAF und ihrer Zusammen­hänge hat so betrachtet durchaus reale Grundlagen gehabt. Hier waren keine durch­geknallten Täter am Werk, sondern Menschen, die sich der begrenzten Möglich­keiten zu wenig selbst bewußt waren. Ein solches verkürztes Denken aufzubrechen, ist alles andere als einfach. Der Auszug der "anderen Fraktion" zu Beginn des Gruppen­prozesses zeigt dies sehr deutlich auf.

So begann die Gruppenarbeit gleich mit einer Enttäuschung. Hatten doch einige ehemalige Gefangene darauf gehofft, daß sich im Setting mit "Moderation" die vielleicht letzte Möglich­keit ergeben könnte, die im Grunde unnötige und unsinnige Spaltung zu überwinden. Die Gesprächs­verweigerung, die sich auch andernorts durch Nicht­beachtung, Nicht-Grüßen oder wortlosem Auszug geäußert hatte, hinterließ eine Leerstelle. Manches wird für immer ungeklärt bleiben. Ella Rollnik formuliert sehr deutlich ihre Ent­täuschung auch darüber, daß ein ehemaliges Gefangenen­kollektiv in Freiheit nicht in der Lage ist, eine gemeinsame Basis dafür zu finden, die noch im Knast einsitzenden Gefangenen freizu­bekommen.

Die Unversöhn­lichkeit im Umgang miteinander steht nicht für die Unversöhn­lichkeit von Positionen, sondern dafür, ob und in welchem Maße Vergangenes angesprochen und geklärt werden darf und soll. Die Selbstver­gewisserung hängt oftmals auch daran, das eigene Weltbild nicht infrage stellen zu müssen. Es ist bitter, zur Kenntnis nehmen zu müssen, daß manches, was einer oder einem wichtig erscheint, nicht mehr thematisiert werden kann. "Im-Stich-gelassen-Werden, Verlassen­werden verursacht Schmerz, Bitterkeit, Ohnmacht, Wut. Das Schlimmste, was man tun kann, ist dem anderen das Gespräch verweigern", schreibt eine der beiden ungenannten Frauen im Buch. [5]

Wer nicht miteinander redet, will keine Auseinander­setzung, keine Befreiung, keine Emanzipation, sondern die Bestätigung der eigenen Macht.

Vielleicht ist eine der desillusio­nierendsten Erkenntnisse aus diesem Buch, daß auch die RAF nicht (immer) das war, was in sie hinein­projiziert wurde. Auch Heroen sind nur Idole, auch Heroen sind nur Menschen. Ich finde das zwar wenig über­raschend, aber in der Konsequenz, wie es mehrere ehemalige Gefangene geäußert haben, doch ernüch­ternd. Die Enttäuschung mag somit auch bei mancher Leserin und manchem Leser vorzufinden sein. Dennoch ist der Umkehr­schluß falsch. Das Unvermögen der RAF, die Härte der Konfrontation mit dem Anspruch emanzipa­torischer Lebens­führung zu verbinden, spricht nicht gegen den Anspruch, sondern gegen die Verhältnisse, die aus Menschen nur das machen, was sie aus sich zu machen in der Lage sind.

Perspektiven

Wichtiger scheint mir jedoch die Frage zu sein, für wen ein solches Buch geschrieben bzw. zusammen­gestellt worden ist. Einmal abgesehen vom Prozeß der Selbstver­gewisserung und vom Aspekt der Dokumentation für ein Archiv – welcher Leserin und welchem Leser kann die Lektüre dieses sicherlich ungewöhn­lichen Zeitdokuments weiterhelfen? Ist es die bloße Erkenntnis oder lassen sich hierbei eigene Frage­stellungen verfolgen oder entwickeln?

Ich denke, so ungewöhnlich sind manche der im Gruppen­prozeß behandelten Frage­stellungen nicht. Auch die RAF agierte nicht im luftleeren Raum, sondern aus dieser konkreten bundes­deutschen Gesell­schaft heraus. Damit will ich nicht sagen, sie sei typisch deutsch gewesen. Das war sie sicherlich schon deshalb nicht, weil sie sich solidarisch als Teil eines inter­nationalen Kampfes begriff und aus der verlogenen deutschen Muffigkeit hinauswollte. Aber bestimmte psychische Dispositionen lassen sich eben nicht durch einen einfachen Willensakt auflösen, sondern bedürfen der besonderen Reflexion, vielleicht auch der Hilfestellung von außen. Daß dies unter dem Repressions­druck der politischen Verfolgung und später unter Isolations­haft­bedingungen alles andere als einfach zu bewerk­stelligen gewesen sein dürfte, ist einleuchtend. Deshalb wäre es auch vollkommen verkehrt, dieses Buch unter negativem Vorzeichen, als Kritik eines sinnlosen Experimentes, lesen zu wollen. Vielleicht ist es notwendig darauf hinzuweisen, daß die RAF nur dann verständ­licher wird, wenn wir sie als das akzeptieren, was sie war: ein Versuch, den Aufbruch der 1960er Jahre aufzunehmen und in eine Zeit hinüber zu retten, in der die besten Ideen und Vorstellungen in den gesellschaft­lichen Mainstream integriert wurden. Der Kampf um Befreiung ist nie falsch.

Vielleicht ist es hier noch einmal notwendig, darauf hinzuweisen, daß Isolations­haft ein Programm ist, das darauf ausgerichtet ist, Gefangene zu brechen oder, falls dies nicht möglich ist, sie soweit in ihrer Subjektivität einzu­schränken, daß sie nie wieder in der Lage sind, ein soziales Leben zu führen. Die Bedingungen und Folgen sind wissen­schaftlich erforscht, und die Forschungs­ergebnisse werden materielle Gewalt in den Hoch­sicherheits­knästen überall auf der Welt. Der Tote Trakt in Köln-Ossendorf und der 7. Stock in Stammheim sind nur zwei Synonyme für das, was auch anderswo praktiziert wurde. Isolationshaft ist nicht nur eine praktische Maßnahme, um politischen und sozialen Widerstand handhabbar wegzu­schließen, sondern als gezielte soziale Deprivation Folter. Die von der Bundes­anwaltschaft verbreiteten und medial bis heute unreflektiert nach­geplapperten Behauptungen, es läge keine Isolation vor, weil der oder die Gefangene doch Besuche empfangen und Briefe schreiben könne, Bücher lesen oder Platten hören könne, werden dann absurd, wenn sie in ihrer Reduziert­heit erkannt werden. Sicher – Menschen, die auch in Freiheit atomisiert herumlaufen, empfinden diese Form der Isolation nicht als solche, weil sie sich "frei" bewegen können. Und dann denken sie, daß Gefangene unter Isolations­haft­bedingungen genauso frei sind wie sie selbst – und sie bemerken nicht, wie unfrei sie sind. Birgit Hogefeld hat über zwanzig Jahre nach der berühmt gewordenen Darstellung von Ulrike Meinhof 1994 noch einmal sehr eindringlich diese reduzierte Form der Wahr­nehmung dargestellt:

„Isolation ist und wirkt darueber, dass du nie mit anderen Menschen zusammensein kannst, dass du immer nur mit dir selber zusammen bist – z. B. realisieren doch Menschen ihre Stimmungen und Gefuehle fast immer in und durch andere Menschen, du brauchst den Mitmensch, um dich selbst als Mensch zu realisieren. In Isolation laeuft jede Stimmung ins Leere, ob du gut gelaunt bist oder wuetend oder unheimlich traurig, du kannst immer mit all dem nirgends hin, das heisst, du kannst das nicht leben. Und das bedeutet, all das bleibt immer in dir drin – du bist und sollst das auch, in dir einge­schlossen sein und werden. Der Kampf, den Menschen in Isolations­haft um ihr Leben und Ueberleben fuehren, ist v. a. ein Kampf darum, das immer wieder zu durchbrechen, also dieses Eingeschlossen­sein in einem selber.“ [6]

Und an anderer Stelle benennt sie sehr deutlich das Motiv der Straf­verfolgungs­behörden. Wenn diese nämlich tatsächlich reflektierte und selbst­kritische Gefangene hätten haben wollen, dann hätten sie nichts weiter tun müssen, als den Kontakt mit der Umwelt und vor allem anderen Menschen zu ermöglichen. In der Auseinander­setzung mit Anderen bist du nämlich gezwungen, deine Wahrheiten, deine Selbs­tgewißheiten infrage zu stellen und stellen zu lassen. Auseinander­setzung ist der beste Motor für Veränderung – und genau diese war ganz offen­sichtlich staatlicher­seits nicht gewollt.

Die Handlungsmuster, die Verkrustungen, die Blockaden und Abgrenzungs­bedürfnisse – all dies ist uns ja nicht fremd, wenn wir etwas reflektierter und selbst­kritischer mit uns selbst und mit unserer Umwelt (also vor allem im Verhältnis zu anderen Menschen) umgehen. In der Geschichte der Roten Armee Fraktion liegt einer der vielleicht ambitio­niertesten Versuche vor, der eigenen und der gesellschaft­lichen Entfremdung zu entgehen, sich und andere nicht als eine Ware zu behandeln, die einen Wert auszuspucken hat. Was hier in seiner Radikalität als gescheitert angesehen werden muß, ist dennoch ein Wegweiser, was geht und was nicht, oder was anders gehen könnte. Darin liegt nicht nur ein Vermächtnis, sondern auch eine Aufforderung. "[Die] Niederlage hat auch eine historische Dimension: Die Zeit war noch nicht reif; wir sind zu weit gesprungen und abgestürzt." [7] Wenn ehemalige Mitglieder der RAF oder der Bewegung 2. Juni über ihre Vergangen­heit sprechen, dann sicherlich auch, um etwas dazu beizutragen, was nach dem bewaffneten Kampf bleibt und nützlich ist und damit uns allen weiterhilft.

Zu erfahren, daß die RAF und ihr Gefangenen­kollektiv auch nicht immer das waren, was sie vor sich hertrugen, führt direkt zu uns selbst. Es geht jedoch nicht darum, sich aufgrund dieses Versagens schuldig zu fühlen, sich von tatsäch­lichen oder imaginierten Vorwürfen abzugrenzen oder die eigenen Unzuläng­lichkeiten auf Andere zu projizieren, wie dies – leider – viel zu oft geschehen ist. Vielmehr ist die Erkenntnis des eigenen Unvermögens eine Aufforderung, sich selbst und auch Andere realistischer zu betrachten – und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, den Versuch zu wagen, dies zu ändern. Nicht alleine, sondern mit anderen gemeinsam. Wenn auch die RAF politisch gescheitert sein mag, so ist der Anspruch, im Kampf für eine bessere Welt sich selbst zu befreien, so aktuell wie damals. Auch wenn dieser positive Schluß im allseitigen Forschen nach den Problemen zu kurz gekommen sein mag, so steckt hierin vielleicht eine der Botschaften dieses auf jeden Fall lesenswerten Bandes. Was hierin an Prozessen und Erkenntnissen unfertig aufgeschrieben wurde, ermöglicht es den Leserinnen und Lesern, darüber hinaus zu denken.

Walter Kuhl
7. April 2007