Koreanische Schrifttafeln.
Reflexionen über die Änderung der Welt
Walter Kuhl
Koreanische Schrifttafeln.
Koreanische Schrifttafeln aus Metall.
Verlegung zweier Stolpersteine.
Stolpersteine in Darmstadt.
Reichstagsgebäude in Berlin.
Der Reichstag in Berlin.
Kanone in Edinburgh.
Kanone in Edinburgh.
Arc de Triomphe.
Arc de Triomphe in Paris.

Rezensionen / Buchbesprechungen

Klaus Stern und Jörg Herrmann : Andreas Baader

Buchcover.

Klaus Stern und Jörg Herrmann : Andreas Baader, dtv, München 2007, 360 Seiten, € 15,00 [damaliger Original­preis].

Dreißig Jahre Herbst

Dreißig Jahre nach dem Deutschen Herbst und neun Jahre nach der Selbst­auflösung der RAF ist es zumindest theoretisch möglich, unbefangen aus historischer Perspektive die Geschehnisse der 1970er Jahre anzugehen. Der ehemalige Staatsfeind Nummer 1 ist geschlagen, ein wirkliches Verfolgungs­interesse seitens der staatlichen Behörden im Grunde nicht mehr gegeben. Diese Behörden sehen das natürlich schon allein aus eigenem Existenz­interesse anders und ohnehin muß nicht zuletzt aus Legitimations­gründen jeder Angriff auf die bestehende Gesellschafts­ordnung abgestraft und verdammt werden.

Die Frage, warum aus der Studenten­bewegung mehrere Gruppierungen militant oder bewaffnet kämpfender Männer und Frauen hervor­gegangen sind, wird selten ernsthaft gestellt. Allenfalls wird ein Irrweg postuliert; eigentlich unpolitisch sollen sie gewesen sein [1]. Selbst­verständlich ist dies keine angemessene Aussage, denn allein die Tatsache, daß Ende der 1960er Jahre nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern geradezu überall auf dieser Erde Jugendliche auf die Barrikaden gegangen sind, sollte hier skeptisch machen. Die bewaffnet kämpfenden antikolonialen Befreiungs­bewegungen waren alles andere als wirklichkeits­fremd oder unpolitisch. Sie standen auf der Höhe der Zeit; und wenn sie viele ihrer Ziele an sozialer Emanzipation nicht erreicht haben, dann liegt das nicht nur an der eigenen Unvoll­kommenheit, sondern auch an den global herrschenden kapitalistischen Gewalt­verhältnissen. Im Grunde ist es so gesehen erstaunlich, daß ein kleiner Inselstaat wie Kuba trotz über 45-jähriger Blockade durch die USA (und teilweise auch ihrer Verbündeten) bis heute durchgehalten hat. Der Impetus, die globalen Macht­verhältnisse infrage zu stellen, war also nicht nur vorhanden, sondern auch wohl begründet. Die Frage wäre also eher zu stellen, ob der bewaffnete Kampf an den peripheren Rändern kapitalistischer Ausbeutung auch einen Resonanz­boden in den Metropolen gehabt hat.

In der Studenten­bewegung gab es gewiß keine Mehrheit, die im Zuge ihres Verfalls für die bewaffnete Option gestimmt hätte. Aber es gab ein sehr eigenartiges Phänomen, das in seiner Dimension viel zu wenig untersucht worden ist. Die Sympathie, die den in der Bundes­republik bewaffnet handelnden Gruppen in den ersten Jahren noch entgegenströmte, war nicht imaginiert, sondern real. Eine Studie, 1974 erschienen [2], zeigte sehr deutlich die Bereit­schaft eines Fünftels der Bevölkerung, der deutschen Stadtguerilla zumindest marginale Unterstützung zukommen zu lassen. Wildfremden Inter­viewerinnen und Interviewern wurde als ganz selbst­verständlich erzählt, man oder frau würde die eigene Türe für die Männer und Frauen der Roten Armee Fraktion, der Bewegung 2. Juni oder ähnlichen Gruppierungen nicht verschließen. Diese Aussage ließ auf einen ernsthaften Legitimations­verlust des politischen Systems schließen – und hier mußte etwas geschehen. Wer auch nur ein bißchen Ahnung von staatlichen Antiterror­strategien hat, weiß, daß nun die Stunde der psycho­logischen Kriegs­führung gekommen war. Die Delegiti­mierung des politischen Gegners erfolgte unter anderem über dessen Kriminalisierung und mediale Verteufelung. [3]

Den Aspekt, daß die bewaffneten Gruppen in der Bundes­republik Deutschland selbst nicht ganz unschuldig an ihrem Medienecho und dem Erfolg der psycho­logischen Propaganda waren, lasse ich hier unberücksichtigt.

Pünktlich zum 30. Jahrestag des Deutschen Herbstes und der Schleyer- und Landshut-Entführung ist Anfang 2007 bei dtv eine erste Biografie zu Andreas Baader erschienen. Die Autoren Klaus Stern und Jörg Herrmann unternehmen hierin den Versuch, das Leben und Handeln eines Mannes zu beschreiben, der wie kaum ein anderer die Politik der 1970er Jahre mitbestimmt haben soll. Denn als „Kopf“ der Roten Armee Fraktion sei er haupt­sächlich verantwortlich für die Eskalation einer Gewalt, die 1977 in der Todesnacht von Stammheim und der anschließenden Erschießung des Arbeitgeber­präsidenten Hanns-Martin Schleyer endete.

Eine Biografie eines derartigen Protagonisten muß demnach einen Begriff der politischen Situation enthalten, der über die Legitimierung staatlicher Gewalt, kapitalistischer Verhältnisse und gesell­schaftlicher Strukturen hinausgeht. Neben die Binnensicht aus der Perspektive der herrschenden Macht muß die Außensicht treten, die es erst ermöglicht, einen Charakter wie den von Andreas Baader adäquat zu erfassen. Damit ist keinesfalls eine Sympathie für oder gar Vorein­genommenheit zugunsten des Biografierten gemeint. Jedoch – die Binnensicht allein ist einseitig, weil sie bestimmte Frage­stellungen ausblendet und gewisse Motivlagen überhaupt nicht erkennt, die zum Verständnis des Themas unabdingbar sind. Selbst eine scheinbar „neutrale“ Untersuchung würde bestenfalls versuchen, es allen Seiten recht zu machen, ohne zu begreifen, daß eine Biografie mehr ist als „Ausge­wogenheit“. Solange ein Biograf selbst ideologisch gefangen und damit auch befangen ist in herrschenden Denk­strukturen, solange wird es ihm nicht gelingen, sein Thema zu durchdringen. Seine Darstellung wird ober­flächlich bleiben und allenfalls durch menschelnde Details unterfüttert werden.

Ich halte diese Vorbemerkung für notwendig. Die von Klaus Stern und Jörg Herrmann vorgelegte Biografie Andreas Baader enthält nämlich genügend Schwach­punkte, die jedoch nur durch eine angemessene Perspektive deutlich werden und verdeutlicht werden können. Ich werde daher weniger auf die gesamten 360 Seiten der Darstellung eingehen, sondern mir statt dessen einige charak­teristische Passagen herausgreifen, die verdeutlichen, wie wenig die beiden Autoren wirklich verstanden haben. Letztlich ist als Ergebnis festzuhalten, daß wir auch nach der Lektüre der Biografie immer noch nicht genau wissen, was für ein Mensch Andreas Baader gewesen ist.

Der Vater fehlt – Schulprobleme

Andreas Baader verlor seinen Vater sehr früh und hat ihn deshalb sicherlich nicht bewußt als solchen wahr­genommen. Weder der genaue Todes­zeitpunkt noch die Todes­umstände sind geklärt; der Vater, ein Wehrmachts­soldat in russischer Kriegs­gefangenschaft, wurde später mit Datum vom 31. Dezember 1945 für tot erklärt. Dieses damals übliche Verfahren, verschwunden gebliebene Ehemänner oder Familien­angehörige offiziell hand­habbar zu machen, hatte für Andreas Baader eine Konsequenz: Er lebte seither unter der Obhut mehrerer Frauen: seiner Mutter Anneliese, seiner Großmutter Hermine und seiner Tante Elfriede. Das konnte natürlich nicht gut gehen. Wie jeder dem heutigen pädagogischen Mainstream ideologisch verbundene Mann weiß, braucht ein Kind seinen Vater zur Stärkung des seelischen Kostüms. Ohne Vater kann ein junger Mann seine patriarchale Rolle nicht richtig einüben. Und so finden wir in der Darstellung zwei bemerkens­werte Phänomene. Erstens: der junge Andreas ist lernfaul und schlecht in der Schule. Und zweitens: er prügelt sich mit seinen Mitschülern.

Nun müßte ein ernsthafter Biograf mehr tun, als die schlechten schulischen Leistungen zu rekon­struieren. Vielleicht ist es ja zuviel verlangt, sich Gedanken über das deutsche (oder überhaupt jedes) Schulsystem zu machen, das letzten Endes dazu eingerichtet ist, der Gesellschaft nützliche und angemessen ausgebildete Arbeits­kräfte zur Verfügung zu stellen [4]. Der sogenannte „heimliche Lehrplan“ umfaßt jedoch nicht nur das, was wir uns womöglich unter „Wissen“ und „Bildung“ vorstellen mögen, sondern auch so nützliche Tugenden wie Fleiß, Ordnung, Disziplin und anständiges Verhalten. Zumindest in der damaligen Zeit wurde zudem großer Wert darauf gelegt, daß Mädchen und Jungen ihre angemessene geschlechts­spezifische Sozialisation erhielten. Wer sich die Zeugnisse der 1950er und 1960er Jahre anschaut, wird erkennen, wie wichtig die Noten in Orchideenfächern wie „Betragen“ und „häuslicher Fleiß“ für das schulische Fortkommen und die menschliche Entwicklung gewesen sind. Es gibt jedoch keinen Grund, dies als eine selbst­verständliche anthropo­logische Konstante zu betrachten. Die Schule als Drillanstalt kapita­listischer Bildungs­idiotie war schon vor den Zeiten des PISA-generierten Bildungswahns kein Zucker­schlecken. Ein Schüler, der sich diesen Normen nicht unterwerfen konnte oder wollte, wurde ausgegrenzt und als unangepaßt bestraft. Da die beiden Autoren hierüber nicht den kleinsten Gedanken verschwenden, begreifen sie die Sozialisations­falle nicht, in die Andreas Baader geraten war und der er mit den beschränkten Mitteln eines heran­wachsenden Jugendlichen, der erst recht keine Analyse seiner Situation vorlegen konnte, zu begegnen versuchte. Was blieb ihm dann viel mehr als Verweigerung und ein für das Schul­establishment unangemessenes Auftreten?

Was das alles mit einem fehlenden Vater zu tun hat? Nun – ein ordentlicher deutscher Vater sorgte zur damaligen Zeit mit Disziplin und einer ordentlichen Tracht Prügel dafür, daß seinem Sohnemann die kapital­konformen Werte und Normen buch­stäblich eingebleut werden. Hier zeigt sich die Väter­ideologie durch die Hintertür in Reinkultur. Daß Kinder nicht etwa Väter, sondern Bezugs­personen benötigen, die ihnen das Leben und Überleben in einer vollkommen wahnwitzigen und ihnen unbegreiflichen Welt liebevoll und unter­stützend ermöglichen, kommt den beiden Autoren dann auch nicht in den Sinn:

„Wenn sich aus diesen Anekdoten ein Muster für spätere Lebensjahre herauslesen lässt, könnte man sagen: Er tut immer genau das Gegenteil von dem, was von ihm verlangt wird.“ [5]

Dieses geradezu klassische Verhalten, also das genaue Gegenteil zu tun, hätte als unbegriffene Auflehnung gegen fremd­bestimmte Leistungs­normen interpretiert werden müssen. Da die beiden Autoren ihr eigenes Leben jedoch selbst in dieser Art Fremd­bestimmung eingerichtet haben, sind sie Gefangene ihres eigenen Denkens (welches im Grunde der vorgegebenen kapital­konformen Denkart entspricht). Und genau so „lesen sie heraus“. Und so „lesen“ sie aus den Schilderungen ihrer Interview­partnerinnen und -partner auch folgendes heraus:

„Und immer häufiger versucht er, sich mit Mitschülern zu prügeln.“ [6]

Keine Frage, dies kann so gewesen sein. Aber schon unsere eigene Lebens­erfahrung sollte uns vorsichtig gegenüber derartigen Zuschreibungen machen. Oftmals ist es doch so, daß derjenige (oder diejenige), der (oder die) sich wehrt, als Aggressor ausgemacht wird, weil die voran­gegangenen Hänseleien, Demütigungen oder Verbal­attacken nicht erkannt und anerkannt werden. Wer sich nicht wehrt, lebt bekanntlich verkehrt. Aber dieses Sich-Wehren ist etwas, was der kapitalistischen Logik widerspricht. Das Verinner­lichen der bestehenden Werte und Normen sieht ein Sich-Wehren nicht vor, es wäre sogar kontra­produktiv. Der ideale Staats­bürger ist einer, der sozusagen aus „tief empfundener Frei­willigkeit“, tatsächlich aber aus rein egoistischem Eigen­interesse, der Meute hinterher­läuft. Als homo oeconomicus maximiert er seinen eigenen Vorteil – auf Kosten anderer. Wer sich hingegen wehrt, bekommt in der Regel die Knute zu spüren. Streiks, die über die ritualisierten Formen kapital­konformer Konflikt­austragung hinausgehen, wurden genauso kriminalisiert, wie Friedens­bewegte, die Zufahrts­straßen zu Massen­vernichtungs­waffen blockierten, um nur zwei Beispiele zu nennen. Die 68er haben die Folgen dieses Sich-Wehrens ganz hand­greiflich (unter Zuhilfenahme von Wasserwerfern und Gummi­knüppeln) erfahren. Selbst­redend besitzen die beiden Autoren keinen Begriff hiervon und laufen daher mit ihrer Darstellung ins Leere. Letztlich soll das Anführen der Prügeleien nur einen Fingerzeig geben: „Seht her, die spätere Gewalt­politik des Andreas Baader beruht auf früh­kindlicher Prägung.“ So ein Unsinn! Wenn hier von früh­kindlicher Prägung gesprochen werden kann, dann liegt sie in der erfahrenen Möglich­keit, sich nicht anzupassen. Ist dies so falsch?

Erinnerungen

Damit kommen wir zum größten Feind jedes Biografen: der Erinnerung. Der sich schon frühzeitig prügelnde Andreas Baader ist solch eine Erinnerung. Wie weit sie trägt, ist eine ganz andere Frage. Einer der befragten ehemaligen Mitschüler konnte sich an Prügeleien gar nicht erinnern. Sind die Prügeleien eine nach­träglich erfundene Fiktion? Möglich. Nun weiß jede erfahrene Gerichts­psychologin, daß das Erinnerungs­vermögen von Zeuginnen und Zeugen so eine Sache ist, der man und frau besser nur eingeschränkt Vertrauen schenken sollte. Es gibt Menschen, die schwören Stein und Bein auf ihre Erinnerung. Und doch läßt sich nicht allzu selten anhand „objektiver“ Beweismittel zeigen, daß dieses Erinnerungs­vermögen trügt. Hier muß nicht einmal Absicht unterstellt werden. Mediale Suggestion und Auto­suggestion, Einbildung und guter Glaube versetzen oftmals Berge. Die beiden Autoren lösen das Problem des trügerischen Gedächtnisses auf ihre Weise: sie reihen die verschiedenen Aussagen aneinander und lassen die Leserin und den Leser hiermit im Regen stehen. Obwohl, nicht ganz: selbstver­ständlich vertreten die beiden Biografen eine eigene Meinung, die im Zweifelsfall zwar nicht begründet ist, aber dennoch vermittelt wird.

„Karin Wieland hat Baader einen »des Bösen« genannt. Jürgen Busche hat entgegen­gehalten: »Zum Dandy fehlte ihm die Geduld, das Pedantische des Auftritts, die Akkuratesse.« Dandyhaft kann sein Auftreten aber wohl genannt werden.“ [7]

Was nicht ist, wird dennoch so genannt. So einfach geht das. Man bastelt sich eine Welt, wie sie einem paßt. Einmal ganz abgesehen davon, daß für die Frage des bewaffneten Kampfes ein dandyhaftes Auftreten vollkommen unerheblich ist. Mit dem Typ des „Dandy“ liegt eine Stilisierung vor, die das gesamte Buch durchzieht. Andreas Baader als Stilist seiner Selbst, eine Selbst­inszenierung. Dieses Stilmittel läßt sich sehr gut verwerten, vor allem da, wo die offizielle Version der Staatsräson vertreten werden muß: Ganz selbst­verständlich gehen die Autoren über die mannigfaltigen Widersprüche der Selbstmord­version der Todesnacht von Stammheim hinweg, haben ganz offensichtlich nicht den Klassiker von Karl-Heinz Weidenhammer [8] zur Kenntnis genommen. Es geht mir hierbei weniger darum, die Frage „Mord oder Selbstmord?“ zur Gretchen­frage zu ernennen. Doch die fast schon haar­sträubende Selbstver­ständlichkeit, mit der die Autoren die Todesnacht als Schurken­stück der RAF-Gefangenen hinstellen, beweist, daß es den Biografen an einer wesentlichen Voraus­setzung mangelt: sie können und wollen sich nicht wirklich in die Gedanken- und Erlebnis­welt des von ihnen Biografierten hinein­versetzen. Und so stricken sie munter an der Staatsversion mit, an der im Grunde nur eines bewiesen ist, nämlich die Krimi­nalisierung abweichender Meinungen. So wurde noch 1988 eine Studentin aus Tübingen zu einem halben Jahr Gefängnis auf Bewährung dafür verurteilt, daß sie sich anmaßte, ein Flugblatt zu verteilen, in dem der Tod von Ulrike Meinhof als „Mord“ benannt war. Dissente Meinungen werden abgestraft, ganz abgesehen davon, daß ein Mainstream­verlag derartige Äußerungen nicht verlegt. So viel zum Thema Meinungs­freiheit zu Beginn des angeblich aufgeklärten 21. Jahr­hunderts. Und was finden die Autoren heraus?

„Der genaue Hergang ist allerdings bis heute im Dunkeln geblieben. So konnte zum Beispiel der Todes­zeitpunkt in keinem der drei Fälle näher bestimmt werden.“ [9]

Und das ist doch sehr verwunderlich, wenn man und frau bedenkt, daß das Bundes­kriminalamt in den 1970er Jahren systematisch aufgerüstet und mit modernster Technik ausgerüstet worden war. Stümper am Werk? Oder gibt es Gründe für die Unklar­heiten, die uns verborgen bleiben? Fernab von aller Spekulation kann jedoch festgehalten werden – und auch die Autoren gehen davon aus [10] –, daß die schon früher publik gewordenen Wanzen im Hochsicher­heitstrakt gewiß das Geschehen in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 1977 aufgezeichnet haben müssen. Es wäre also ein Leichtes, die Bänder zu veröffentlichen. Daraus notwendige Schlüsse ziehen die Autoren vorsichtshalber nicht.

Daher verwundert es auch nicht, mit welcher Leicht­fertigkeit und Arroganz sie über das Kapitel Isolations­haft bzw. Isolations­folter hinweg­wischen. Klar, wer sich nicht wehrt, braucht auch nicht zu befürchten, als Staatsfeind Maßnahmen ausgesetzt zu werden, die eines Staatsfeindes würdig sind. Aber daraus zu schließen, daß es Isolation als Folter nicht gibt, entbehrt jeglicher redaktioneller Substanz. Keiner der beiden Autoren hätte es mit dieser Haltung auch nur ein halbes Jahr unter den gegebenen Isolations­haftbedingungen ausgehalten. Der Preis der Anpassung ist nämlich die Unterwerfung.

Geschmacksfragen

Die mangelnde inhaltliche Beschäftigung mit dem Untersuchungs­gegenstand wird von beiden Autoren dadurch ausgeglichen, daß sie ausgiebig beschreiben, unter welchen Umständen sie welche Zeugin und welchen Interview­partner angetroffen haben. Eine derartige Vorgehens­weise mag zu einer suggestiven Fernseh­dokumentation über Die vergessene Entführung des Peter Lorenz oder Andreas Baader – der Staatsfeind (Klaus Stern) passen. Aber eine Biografie ist kein Fernsehfilm, in dem die Zuschauerinnen und Zuschauer menschelnd dem dargestellten Phänomen näher­gebracht werden sollen, sondern sie sollte eine ernsthafte Auseinander­setzung mit der biografierten Person sein. Sollte …

Klaus Stern trifft Andreas Baaders ehemalige Geliebte Ello Michel: „Die Kaffee­maschine sprotzt […].“ [11] Jörg Herrmann forscht nach Andreas Baaders Vetter Reimar Kroecher und benutzt hierzu das Internet. Aufgeregt vermeldet er: „In Zeiten des Internet beginnt die Recherche auf der Startseite von Google. Sie fördert in 0,49 Sekunden 59 Treffer für die Kombination »Reimar Kroecher, Vancouver« zu Tage.“ Ja, sowas aber auch! Nur – welche Relevanz für die Biografie besitzt diese Googelei? Keine. Aber es menschelt.

Derselbe Autor trifft sich mit dem Vorsitzenden Richter des Stammheimer Strafsenats, der die RAF abzuurteilen hatte, nämlich Theodor Prinzing: „Mittags essen wir noch zusammen. Prinzing hat sich eine Hühnersuppe und ein Croissant zum Nachtisch geholt. Selbst­bedienung. Ich kehre mit Maultaschen an den Tisch zurück.“ [12] Diese Maultaschen sind gewiß ein wichtiges biografisches Element in Andreas Baaders Leben. Da ist die Vollzugs­meldung eines Stammheimer Gefängnis­wärters von größerem Interesse, auch wenn aus dem Text überhaupt nicht hervorgeht, was das beschriebene Geschehnis am 6. April 1976 mit der im euphemistisch „Mehrzweck­gebäude“ genannten Prozeßsaal statt­findenden Haupt­verhandlung zu tun hat:

„Bei der heutigen Mittagessen-Ausgabe im Mehrzweck­gebäude an den Untersuchungs­gefangenen Baader nahm dieser den mit Reis, Soße und Schaschlik gefüllten Plastikteller von mir entgegen und warf diesen unmittelbar neben mich an die Zellenwand. Durch herumspritzende Essensreste wurden mein Diensthemd und Diensthose ziemlich stark beschmutzt.“ [13]

Nun – hierfür gibt es die knasteigene Wäscherei, in welcher die Arbeitskraft der Gefangenen profitabel ausgebeutet wird. Viel Gejammer um nichts, zumal nicht erklärt wird, weshalb Andreas Baader das Essen an die Wand geworfen haben mag. Gab es hierfür keine Gründe? Oder warum recherchiert der Autor hier nicht nach? Nun, die Recherche war gewiß überflüssig, denn das Geschehen spricht für sich selbst: Mit Essen spielt man nicht. Und wer es dennoch wagt, kann nur ein dandyhafter Desperado sein.

Fast schon ermüdend ist es, darauf hinzuweisen, daß Eberhard Foth, der Prinzing nach einem erfolgreichen Befangen­heitsantrag ablöste, dem Autor im trauten Heim Kaffee und Kartoffelchips gereicht hat. [14]

Nebenbei sei angemerkt, daß die bis Mitte 2006 existierende Ausbildungs-Crew bei Radio Darmstadt als Leitlinie festgestellt hat, daß die exhibitionistische Darstellung der eigenen redaktionellen Arbeit darauf schließen läßt, daß es mit den darzu­bietenden Inhalten nicht so weit her ist.

Befangenheit

Nicht nur Theodor Prinzing war befangen. Die beiden Autoren unterlassen es geradezu sträflich, nach der Motivation und dem Wahrheits­gehalt der vorgebrachten Erinnerungen und Dokumente zu fragen. So, wie sie den Gefühls­haushalt von Ulrike Meinhof geradezu voyeuristisch als sado­masochistische Beziehungs­muster denunzieren, zeigen sie zumindest ansatzweise, daß sie zu psycho­logistischen Erklärungen in der Lage sind. Dennoch fehlt selbst diese reduzierte Sicht auf die Menschen, den Aussagen und Schrift­material sie fleißig für ihre Biografie nutzen. Noch einmal: ohne eine intensive Auseinander­setzung mit den Motiven von Menschen, die nach mehreren Jahr­zehnten eine bestimmte Sichtweise auf Andreas Baader entwickelt haben, führt letztlich jede Interpretation menschlichen Handelns ins Leere. Erst recht dann, wenn die Autoren begriffslos das Phänomen sich als revolutionär begreifender Gewalt betrachten und zu Deutungen gelangen, die mit den Geschehnissen wenig, aber mit ihrer eigenen ideologischen Sichtweise eine Menge gemein haben.

Die Biografie von Andreas Baader ist deshalb zwangs­läufig mißlungen. Eine Aneinander­reihung von Lebens­abschnitten ersetzt keine stringente Analyse, ohne die der Mensch Andreas Baader jedoch nicht begriffen werden kann. Vielleicht war dies aber auch nicht die Absicht. Denn auch in einer gescheiterten Politik findet sich Erkenntnis. Die Frage, wie die mörderischen und wahnwitzigen gesell­schaftlichen Verhältnisse weltweit verändert werden können, steht nämlich weiterhin auf der Tages­ordnung. Selbst­redend nicht auf der Agenda der beiden Autoren. Die stehen nämlich so standfest hinter der hiesigen Gesellschafts­ordnung, daß ein derart schlechtes Buch dabei heraus­gesprungen ist.

Schlußwort

Das Schlußwort überlasse ich anderen. Hans-Christian Ströbele etwa „findet das Baader-Bild falsch, das in Deutschland gezeichnet wird.“ [15] Diese Äußerung hätte zumindest ein Nachhaken verdient gehabt, selbst wenn der ehemalige RAF-Anwalt und heutige Grüne Politiker sich nicht näher dazu äußern will. Monika Berberich, eine Frau „der ersten Stunde“, die sich durchaus selbst­kritisch mit der eigenen Geschichte beschäftigt, fand 1996 bei einer Podiums­diskussion zu Ulrike Meinhof in Berlin zu folgender Aussage:

„Es ist sehr schnell nach der Verhaftung darüber diskutiert worden, ob und wie er befreit werden soll. Der Grund war, das ist in der ersten sog. RAF-Zeitung 1971 genauer erläutert worden: Er hätte noch fast zwei Jahre sitzen müssen, und die Einschätzung war, daß es sehr schwierig sein würde, ohne ihn tatsäch­lich diese Gruppe aufzubauen. Das mag jetzt, aus heutiger Sicht, vielen absurd vorkommen: Wie kann das sein, daß es an einem Menschen hängt? Es hing auch nicht an einem Menschen, aber man muß sich halt vorstellen, wir sind aus ganz ganz unterschiedlichen Zusammen­hängen gekommen mit unter­schiedlichen Politisierungen, hatten erstmal nicht mehr als unsere Entschlossenheit aus unseren Erfahrungen, das jetzt anzupacken, weil wirs für richtig hielten. Das war aber auch schon fast alles. Jeder, der versucht, eine Gruppe zu organisieren, weiß, was da an Problemen auftritt, an persönlichen Problemen, an Widersprüchen und und. Andreas hatte die Fähigkeit, auf eine Weise zwischen Leuten zu vermitteln, die es möglich gemacht hat, emanzipativ damit umzugehen, es nach vorne zu lösen und nicht sich in irgendwelchem Hickhack auseinander­zusetzen. Das war der Grund, warum die Gruppe beschlossen hat, ihn zu befreien.“

Ich finde, dieser Gedanke sagt mehr über den tatsächlichen Andreas Baader aus als die schon erwähnte sprotzende Kaffee­maschine und die wohl­schmeckenden Maultaschen. Wer dieser Mensch dann aber wirklich gewesen ist, ist auch nach der Lektüre über Das Leben eines Staatsfeindes nicht deutlicher geworden. Und wenn ich selbst davon ausgehe, daß ich mit ihm nicht klargekommen wäre, so ist dies eine ganz andere Geschichte …

Walter Kuhl
13. April 2007