Andrea Komlosy : Zeitenwende
Kurzfassung

Andrea Komlosy ; Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft, Promedia Verlag, Wien, Herbst 2022, 288 Seiten, € 23,00, als eBook € 19,99.
Wo wir uns befinden
Die Corona-Pandemie hat den auf Kante genähten neoliberalen just-in-time-Kapitalismus an seine Grenzen gebracht. Gewißheiten zur Versorgung mit materiellen Gütern und Dienstleistungen, wie sie in weiten Teilen der Zentren des Kapitals üblich geworden waren, wurden erschüttert. Lockdowns in China und andernorts sowie ein gestrandetes Schiff im Suezkanal unterbrachen die Lieferketten des Kapitals. Als dann noch die politische Situation in der Ukraine mit westlicher Unterstützung eskalierte und Rußland sich aus machtpolitischem Eigeninteresse veranlaßt sah, mit seiner Armee in das Nachbarland einzufallen, wurde die Energieversorgung Europas ein zentrales Thema. Explodierende Öl- und Gaspreise (und Leitungen) heizten eine schon im Entstehen begriffene Inflation an, wie sie die Metropolen des Kapitals schon lange nicht mehr erlebt hatten. Allerdings gab es schon vor der Pandemie und vor der russischen Invasion Warnzeichen, die auf einen wirtschaftlichen Abschwung hindeuteten. [1]
Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat im Februar 2022 von einer Zeitenwende gesprochen:
„Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf, ob wir es Putin gestatten, die Uhren zurückzudrehen in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts, oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen. Das setzt eigene Stärke voraus.“ [2]
Olaf Scholz redet hier nicht von den zahlreichen Kriegen der USA, deren Macht jegliches Recht gebrochen hat; und das sind mit Ausnahme der beiden Interventionen im Ersten und Zweiten Weltkrieg so ziemlich alle. Er redet nicht vom Krieg der NATO gegen Jugoslawien und in Afghanistan, von Guantanamo oder den bis heute sichtbaren Folgen der mit deutscher Hilfe durchgeführten Entlaubungsaktionen in Vietnam. Nein, sein Feindbild ist ein Autokrat, dem der etwas anders zusammengesetzte deutsche Bundestag, vor dem er seine Zeitenwende-Rede am 27. Februar 2022 hielt, zwanzig Jahre zuvor eine standing ovation dargebracht hatte [3]. Damals gehörte Wladimir Putin noch zu den Guten und Geachteten, denn er hatte in Tschetschenien nur das getan, was die USA und ihre Verbündeten bald darauf in Afghanistan und im Irak anrichten sollten, nämlich das Ausüben von Macht über Recht als Ausdruck eines jahrhundertelang bewährten westlichen Wertestandards. Damals galt Putin als Verheißung eines offen Zugangs zu den russischen Ressourcen und Märkten. Als Rußland sein oligarchisches Wirtschaftssystem in der Folge jedoch nicht den westlichen Oligarchen auslieferte, wandelte sich die Stimmung. Das, was in Saudi-Arabien, Katar oder der Türkei gerne akteptiert wird, wurde nun in Rußland gebrandmarkt: Einschränkung der Demokratie und Pressefreiheit, politische Zensur und Verfolgung, Homophobie. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die medial geschürte antirussische Stimmungsmache einen veritablen Krieg erzeugte. Natürlich hätte dieser Krieg verhindert werden können. Die feministische Außenministerin Annalena Baerbock hätte dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski mit den üblichen westlichen Daumenschrauben beibringen können, das gemeinsam mit Frankreich und Deutschland ausgehandelte Abkommen von Minsk umzusetzen, um den seit acht Jahren andauernden ukrainischen Dauerbeschuß von Frauen und Kindern in Donezk und Lugansk zu beenden. Aber keine Seite außer Rußland hatte ein Interesse daran; zu verlockend waren die Aussichten auf Kriegsdividende. [4]
Für uns hier in der eher heimeligen Metropole ist die Welt nun tatsächlich nicht mehr dieselbe. Die fünf, sechs, sieben Milliarden Menschen außerhalb der wirtschaftlichen und sozialen Komfortzonen sehen dies ohnehin auf ihre eigene Weise. Liegt hier wirklich eine Zeitenwende vor? Oder holen uns nur die Zeiten wieder ein, in denen Krieg und Raub, Elend und autoritäre Strukturen der Normalfall gewesen sind?
Die österreichische Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Andrea Komlosy hat den politischen, sozialen und wirtschaftlichen Umgang mit der Corona-Pandemie zum Anlaß genommen, eine Standortbestimmung vorzunehmen. Wo genau befinden wir uns, was bedeutet das und wo könnte es hingehen? Es ist nicht nur daß sie es unternommen, sondern auch wie sie es ausgeführt hat, was ihr dabei herausgekommenes Buch so lesenswert macht. [5]
Von Wellen und Hegemonie
Das erste Drittel des Buches handelt davon, wo wir uns in der langen Geschichte des Kapitalismus, ja sogar der sich selbst bewußten menschlichen Existenz befinden. Das ist insofern von Belang, weil die Autorin im zweiten, wesentlich längeren Teil den Umgang mit der Corona-Pandemie zum Ausgangspunkt dafür nimmt, wie das kybernetische Prinzip des Sammelns und Verarbeitens von Daten und der darauf aufbauenden Algorithmen unsere Zukunft bestimmen soll und kann.
Wie sie selbst schreibt, kann der erste, eher theoretische Teil ohne Verlust übersprungen werden, um ihre Argumentation im zweiten Teil nachzuvollziehen. Hier soll hingegen zunächst der erste Teil näher beleuchtet werden.
Ihr Ansatz ist ein strukturgeschichtlicher. Denn weder, so schreibt sie, sei in den vergangenen Jahren im Umgang mit der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine alles durcheinander geraten, noch einfach ein vorgefaßter Plan der wirtschaftlichen Eliten in die politische Tat umgesetzt worden. Vielmehr gelte es, das Jetzt in langfristige Trends und Zyklen einzuordnen. Es geht um die Rahmenbedindungen sozialen und politischen Handelns in Anlehnung an Karl Marx' Aussage, daß die Menschen ihre eigene Geschichte machen, aber nicht aus freien Stücken, sondern innerhalb vorgefundener und überlieferter Umstände. (Wobei Rosa Luxemburg diesen Satz umgedreht und anders akzentuiert hat, als sie darauf bestand, daß die Menschen trotz alledem ihre Geschichte immer noch selbst schreiben.)
Andrea Komlosy unterscheidet hierbei Trends von unterschiedlicher Länge und Gewichtung: die nach Nikolai Kondratieff benannten Zyklen bzw. langen Wellen, etwas längere Hegemonialzyklen und noch längere Schwingungen der menschlichen Evolution. Das Konzept der langen Wellen der Konjunktur wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umkreis russischer Wirtschaftsforscher entwickelt, die zunächst nur darstellen wollten, ob und wie sich der Kapitalismus in Rußland entwickeln könne. In den 1920er Jahren systematisierte Nikolai Kondratieff die Beschreibung und Theoretisierung der später nach ihm benannten Zyklen; er selbst wurde eines der vielen Opfer der stalinistischen Säuberungen. Diese frühen Autoren erkannten, daß es neben den klassischen industriellen Zyklen von rund zehn Jahren Dauer noch längerfristige Trends von etwa fünfzig Jahren geben müsse. Dies ist umso erstaunlicher, als der industrielle Kapitalismus zu diesem Zeitpunkt erst rund 150 Jahre existierte und das Datenmaterial mit seinen Mustern erst noch zusammengetragen und interpretiert werden mußte. Die Frage war dann jedoch, was die Ursache derartiger zyklischer Bewegungen ist. Joseph Schumpeter beantwortete diese Frage Ende der 1930er Jahre mit seiner Vorstellung der schöpferischen Zerstörung des Kapitals durch Innovationen, die neben der Entwertung vorhandenen Kapitals neue Schübe der Akkumulation von Kapital ermöglichen. [6]
Es ist vielleicht kein Zufall, daß die Autorin gerade jetzt diese Kondratieff-Zyklen heranzieht. Generell scheint es so zu sein, daß die Beschäftigung mit den langen Wellen dann wieder einschläft, wenn der Kapitalismus zu funktionieren scheint. Gerät das Kapital in eine neue Stagnationsphase, so wird verstärkt nach Ursachen und passenden theoretischen Modellen gesucht; und dabei werden die langen Wellen geradezu wiederentdeckt. So war es auch vor rund fünfzig Jahren, als der marxistische Ölonom Ernest Mandel und die Weltsystem-Gruppe um Immanuel Wallerstein unabhängig voneinander wichtige Impulse zum Verständnis dieses Phänomens herausgearbeitet haben. Denn die Antwort Schumpeters befriedigt nicht wirklich, auch wenn sie in den 1970er Jahren durch Gerhard Mensch und andere mit dem Konzept der Basisinnovationen wieder aufgegriffen wurde. Im Buch von Andrea Komlosy scheint durch, daß es um mehr als nur Innvationen geht. Es geht um politische Rahmenbedingungen, vielleicht auch um Krieg und die Frage, wer und was den Gang der kapitalistischen Entwicklung bestimmt. Vor etwas mehr als dreißig Jahren habe ich darauf hingewiesen, daß hier der Rückgriff auf den von Marx theoretisierten tendenziellen Fall der Profitrate und der ihm entgegen wirkenden Ursachen hilfreich sein möge. Dennoch bleibt auch hier zu erklären, wie sich dieser tendenzielle Fall und daraus auch die Kondratieffs plausibel begründen und belegen lassen. [7]
Denn das Konzept der Kondratieff-Zyklen ist zwar mehr als nur ein heuristisches Modell, weil es sie wirklich zu geben scheint, aber es fehlt eine umfassende kausale Theorie, um die Beobachtungen einzurahmen. (Mandels Ausführungen kommen dem wohl am nächsten.) Dazu gehören dann auch Überlegungen zur Existenz von Kondratieffs vor der industriellen Revolution in England – wenn es diese Revolution so gegeben hat, was Wallerstein in seinem magnum opus angezweifelt hat – und woher sie sich dann ableiten lassen; aber auch grundsätzliche Daten zur Periodisierung. In welchem Kondratieff und welcher Phase desselben befinden wir uns derzeit? War die Finanzkrise von 2008 der Übergang zu einer eher depressiven, sogenannten B-Phase, wie die Autorin nach Vorstellung diverser Modellierungen vorschlägt, oder endete der Anfang der 1990er Jahre neu entfachte Boom des fünften Kondratieffs erst mit Beginn der Pandemie (wie ich es sehe)? Das sind Fragen, die insofern relevant sind, um einordnen zu können, wann und wie sich neue Triebkräfte eines (für die Kapitalisten) neuen ertragreichen Kondratieffs entwickeln können. [8]
Jedenfalls scheint das Instrumentarium hier nicht auszureichen, weshalb Andrea Komlosy eine noch längere Struktur heranzieht, die Hegemonialzyklen. Das hierauf basierende theoretische Modell geht davon aus, daß sich die (früh)kapitalistische Entwicklung nicht nur rein konjunkturell, sondern auch machtpolitisch zeigt. Demnach gibt es rund einhundertjährige Zyklen (im Grunde Doppel-Kondratieffs) mit einer dominanten wirtschaftlichen und politischen Macht. Wichtig bei diesem Konzept ist, daß sich die Zentren, Peripherien und dazwischen befindlichen Semiperipherien verschieben können, was nunmehr die Frage nach der nächsten hegemonialen Macht aufwirft. Kann es nach der Erosion der wirtschaftlichen US-Dominanz das Reich der Mitte in China werden? Hier scheint die Autorin eher skeptisch zu sein.
Die kybernetische (R)Evolution
Wir befinden uns also in einer Abschwungsphase einer langen Welle, deren Beginn und erst recht deren Ende nicht eindeutig zu datieren sind. Sicher ist nur, daß sich der Kapitalismus in einer Krise befindet, die eine neue Basis erneuter Akkumulation hervorbringen muß. Zumindest war das bislang so. Ob die Triebkraft des vierten Kondratieffs nach dem Zweiten Weltkrieg die Automobilindustrie und der mit ihr verbundene Erdölsektor war und/oder der Militärisch-Industrielle Komplex der USA, sei dahingestellt. Schwieriger wird es schon, den Leitsektor des fünften Kondratieffs ab 1990 zu bestimmen: Die Möglichkeiten der Computertechnologie für Produktion, Konsum und Warenumschlag? Das alles abschöpfende Finanzkapital in Form des globalen Kasinos und der Heuschrecken? Sicher ist, daß kein Kondratieff dem anderen gleicht, die Triebkräfte verschieden sind und er schon gar nicht als das immer Wiederkehrende des immer Gleichen erscheint. Vor einhundert Jahrten hatten wir hier in Deutschland eine Hyperinflation als Nachläufer der Kriegskredite und -anleihen sowie politische Eliten, welche auf die Zerschlagung sozialer Errungenschaften der Novemberrevolution durch die Nationalsozialisten gesetzt haben. Heute scheint die faschistische Option in ihrer Reinform nicht oder noch nicht benötigt zu werden. Es sind somit nicht nur die ökonomischen, sondern auch die politischen Faktoren und Rahmenbedingungen sehr verschieden.
Wir befinden uns – nach dem Weltsystem-Modell – am Beginn der zweiten Phase eines Hegemonialzyklus, eines Zyklus, der durch Aufstieg, Sieg, Reife und Abstieg eines der kapitalistischen Zentren bestimmt wird. Demnach endete das US-amerikanische Hegemoniezeitalter um 1990. Eine neue Rivalität begann, denn die USA sind wirtschaftlich nur bedingt noch erstklassig, verfügen jedoch über eine dominante militärische und damit politische Macht. Ernest Mandel schrieb in der Folge der Wirtschaftskrise von 1966/67 vom sich herausbildenden Gegensatz zwischen den USA und Europa und später war Japan als dritter mächtiger Block im Gespräch. Doch derzeit ist die EU mit dem Gravitationszentrum Deutschland eher, aber nicht nur, das Anhängsel der USA, agiert also durchaus auch eingenständig; und Japan ist ökonomisch ein Schatten seiner selbst. China und das chinesische Kapital im Nomenklatur-Pseudo-Kommunismus ist die ultimative Herausforderung für eine sich erneuernde US-Hegemonie; und daß die weitere Entwicklung ohne den Krieg der beiden Giganten auskommt, ist schwer vorstellbar. [9]
Aber es gibt noch etwas ganz Anderes. Die Computerisierung der vergangenen Jahrzehnte hat neue Möglichkeiten der Datenerfassung, Datenverarbeitung und Datenverwertung geschaffen. Ein kybernetisches Zeitalter kündigt sich an. Allerdings werden uns nicht Maschinen, gar Cyborgs beherrschen, sondern Kapitalkonglomerate, welche Daten abschöpfen und darauf aufbauend Algorithmen finden, welche unser aller Leben beeinflussen. Die Autorin diskutiert den Gedanken von Evolutionszyklen als Prinzipien der Organisierung von Technik, Gesellschaft und Natur. Auf die Jägerinnen und Sammler folgten Landwirtschaft und Gewerbe. Die Einteilung der menschlichen Entwicklung in Steinzeit, antike Sklavinnenhaltergesellschaft und Feudalismus (oder gar das Marx'sche Ungetüm der Asiatischen Produktionsweise) wird obsolet. Es folgten ab 1500 Handel und Industrie und dann als neue, sich seit 1950 herausbildende Produktionsrevolution die Kybernetik. Die darauf fußenden utopischen wie dystopischen Männerphantasien von technischer Allmacht und Unsterblichkeit sind jedoch, worauf die Autorin zurecht verweist, nicht einfach nur als unrealistische Spinnerei abzutun. Die Kritik an diesem Wahn, durch Technik und Algorithmen alles bewirken zu können, kann nicht die sein, das funktioniere ja ohnehin nicht. Ganz im Gegenteil, es muß für deren Apologeten gar nicht so kommen; denn es reicht aus, den Weg des technisch Machbaren in aller Unvollkommenheit zu beschreiten, weil ein Ziel damit verbunden ist. Ob sich das angestrebte weitere Wirtschaftswachstum über einen Green New Deal verwirklicht und/oder eine auf Wissenschaft und Experten beruhende Kontrollgesellschaft hervorbringt, ist erst einmal für die weltweit herrschende Klasse unwichtig. Allerdings ist diesen utopischen Dystopien gemein, daß der Mensch als mündige Bügerin mit verbrieften demokratischen Rechten darin nicht mehr vorkommten muß. Denn der kapitalfreundliche und angeblich (neutral) wissenschaftlich agierende Algorithmus weiß viel besser als der Mensch, was gut fü die Menschheit ist.
Was hier zu diskutieren wäre: Ist die Kybernetik, sind die Algorithmen unsere unvermeidliche Zukunft, und, vielleicht noch wichtiger, krempeln sie eine ganze globale Gesellschaft von analog auf digital um? Und was heißt das dann für uns und unsere Träume von Freiheit und Emanzipation? Ist Gegenwehr möglich, sinnvoll und wenn ja: wie?
Das Gelegenheitsfenster
Die Aufschwungsphase eines sechsten Kondratieffs läßt also noch ein wenig auf sich warten, je nach Ansatz der B-Phase des vorangegangenen fünften Kondratieffs demnach noch rund zehn bis 25 Jahre. Nach Ansicht von Andrea Komlosy könnten Informations- und Kommunikationstechnologien zusammen mit Biotechnologien die neuen Leittechnologien und Leitsektoren herausbilden. Der entscheidende Durchbruch dieser Technologien setzt jedoch gesellschaftliche Veränderungen voraus. Noch ist die allgemeine Datenpreisgabe nicht als selbstverständlich eingeübt (obwohl weit verbreitet), noch ist die Eingewöhnung an neue Produkte und Techniken der digitalen Medizin nur im Ansatz vorhanden. Doch wie dorthin kommen? Das sich in einer Verwertungskrise befindliche Kapital benötigt so etwas wie einen Katalysator des Übergangs, wenn nicht gar eine Art Reset.
Das Gelegenheitsfenster ist ein schöner Begriff der Autorin für das, was wir seit drei Jahren erleben dürfen [10]. Er ist unaufgeregt und vermeidet jeglichen Gedanken an eine „Verschwörung“ der herrschenden Eliten. Mit diesem Begriff lassen sich Intentionen, Widersprüche und Ungereimtheiten einer oberflächlich als Chaos wahrnehmbaren Politik besser verstehen. Das Politische im Kapitalismus ist gleichsam Ausdruck von Klasseninteressen und Klassengegensätzen; und selbstverständlich haben die herrschenden Eliten ihre ganz eigene Vorstellung davon, wie einer sich abzeichnenden größeren Krise der Kapitalverwertung zu begegnen ist. Man und frau vernetzt sich transatlantisch, sorgt dafür, daß zukünftige Generationen von Politikerinnen und Administratoren gut eingebettet und ideologisch versorgt werden, und führt Planspiele für den Fall der Fälle durch. Mehrere dieser Planspiele drehten sich um Biosecurity, und nicht zufällig wurde ein Szenario durchgespielt, das sehr an das in Wuhan mutierte Coronavirus erinnert. Andrea Komlosy macht jedoch zu Beginn ihres zweiten Abschnittes klar, daß hier nicht einfach ein Planspiel 1:1 umgesetzt wurde. Vielmehr wurde die Corona-Pandemie als Gelegenheit betrachtet, so viel wie möglich von dem umzusetzen, was für das Kapital der Zukunft erforderlich wird. Mit allen Widersprüchen, denn verschiedene Fraktionen des Kapitals in den jeweiligen Ländern wie Blöcken versuchen dabei, ihre jeweils eigenen Interessen gegen andere durchzusetzen. Daher der als Wildwuchs erscheinende Umgang mit der Pandemie und die immer neuen als erratisch erscheinenden Irrungen und Wendungen der Politik.
Es ist das, was die mit dem Vorhalt einer Verschwörungstheorie denunzierten Personen, Gruppen und Gedanken nicht verstehen, denn sie haben in der Regel keinen Begriff vom Kapital, vom Kapitalismus und von den Mechanismen der Kapitalverwertung, wie sie sich dann auch im Politischen äußern. Und ihnen fehlt ein dezidierter Klassenstandpunkt.
Im zweiten Abschnitt nimmt uns Andrea Komlosy zunächst mit in zweieinhalb Jahre Umgang mit der Corona-Pandemie. Sie zeigt, wie Big Data und Big Pharma [11] eine Allianz eingehen, wenn sie unter dem Motto der Alternativlosigkeit Lockdowns, Bewegungskontrollen und das Impfen mit neuartigen gentechnisch gewonnenen Impfstoffen verordnen. Zu Beginn der Pandamie habe ich das, was sich abzeichnete, als „autoritären Maßnahmestaat“ bezeichnet. Die Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie wurde ausgehebelt und das Handeln mit Jens Spahn einem Superminister übertragen. Die Bundesnotbremse überzeugte alle, welche die Bilder aus der Lombardei verinnerlicht hatten. Christian Drosten, der noch zu Beginn der Pandemie in seinem NDR-Podcast meinte, er sehe für sich kein großes Risiko, nach Norditalien zu fahren, wurde als idealer Mediator der sich entwickelnden Corona-Politik eingefangen und zu deren Sprachrohr gemacht. Widerstand war zwecklos, er wurde von geeint auftretenden Medien geradezu niedergetrampelt. [12]
Denn es gab durchaus Alternativen, aber sie paßten nicht in das herrschende Konzept: das auf Profitmaximierung ausgerichtete Gesundheitssystem durfte nicht kollabieren, die systemrelevante Wirtschaft (und nur diese!) mußte am Laufen gehalten werden, und als allheiligstes Heilmittel wurde das Impfen angepriesen. Vulnerable Gruppen wurden einfach weggesperrt und in vollkommen überforderten Einrichtungen dem massenhaften Sterben ausgeliefert. Masken zu tragen wurde heilige Bürgerinnenpflicht, obwohl die zunächst einfachen Stofftücher wenig bis gar keinen Schutz boten. Und dann mußten die Kinder daran glauben. Erst wurden sie zu Hause gelockdownt und dann, obwohl für diese Altersgruppe medizinisch nicht notwendig, durchgeimpft, damit ihre Angehörigen ihre Arbeitskraft zu Markte tragen konnten. Wer nicht mitmachte, wurde mit sozialem Ausschluß bestraft.
Dennoch frage ich mich im Nachhinein, ob wir wirklich einen derartigen autoritären Maßnahmestaat erlebt haben oder nur die formale bürgerliche Demokratie in ihrer neoliberal-postmodernen Vervollkommnung. Sozusagen als Vorgeschmack auf dasmahe, was auf uns zukommt. Experten und Expertensysteme übernehmen die Entscheidungsfindung, die nachträglich formaldemokratisch abgenickt wird.
Schöne neue Welt
Mit der Corona-Pandemie kamen neue Regeln und Verhaltensweisen. Corona-Apps und die chaotische Nachverfolgung von Infektionen durch die weitgehend noch analog hantierenden Gesundheitsämter sammelten Daten und Bewegungsbilder. Horst Herold, der Ende der 1960er Jahre als Polizeipräsident von Nürnberg den Computer zur Verbrechensbekämpfung propagierte, hätte feuchte Augen bekommen. Seine Vision eines „Sonnenstaates“ (Enzensberger 1979 [13]) war es, durch möglichst viele Verhaltensdaten das nächste Verbrechen mit Ort und Uhrzeit voraussagen zu können. Heute wird diese Dystopie nicht nur technisch realisierbar, sondern sie wird ansatzweise auch angewandt. Hollywood ahnte das schon vor einigen Jahrzehnten. Der staatliche Ruf nach anlaßloser Vorratsdatenspeicherung verweist darauf, daß wir alle als sozial verdächtig gelten und für das Wohl des Kapitals zu kontrollieren sind. Das Abschöpfen von Verhaltensdaten bei jedem Klick mit der Maus, jedem Aufruf digitaler Assistenten und jedem Betatschen des Smartphones gehört nicht nur längst zu unserem Alltag, sondern setzt etwas in Gang, was die Autorin als in Daten kondensierte Erfahrung bezeichnet. Das ist der Rohstoff des 21. Jahrhunderts; und hierauf werden neue Produkte und Techniken aufgesetzt.
Wenn ich Andrea Komlosy richtig verstehe, führt sie die in den 1980er Jahren aufgekommene Diskussion um weibliche unbezahlte Arbeit als eine wichtige Quelle des Mehrwerts des Kapitals (Stichwort Hausfrauisierung) fort, indem sie nunmehr das Abschöpfen der Verhaltensdaten als eine neue Quelle des Mehrwerts im kybernetischen Zeitalter betrachtet. Auch wenn diese Aneignung von Erfahrung als eine Art unbezahlter Arbeit nicht unbedingt wertschöpfend im Marx'schen Sinne ist, so könnte die damit verbundene innere Kolonisierung der Menschen eine neue Quelle von Profit herausbilden. Rosa Luxemburg hat vor hundert Jahren in ihrem theoretischen Meisterwerk zur Akkumulation des Kapitals gedacht, daß das Kapital irgendwann alle ihm äußeren Regionen inkorporieren und unterwerfen würde. Danach müßte es an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen, weil es keine ausreichend neue Quelle von Mehrwert mehr gebe. Sie hat die Aneignung und Inkorporierung aller Lebensäußerungen der Menschen als Quelle neuen Wertes und Mehrwertes wohl vollkommen unterschätzt. [14]
Andrea Komlosy zeigt uns an einzelnen Beispielen, was das bedeutet; und ich greife hier einige willkürlich heraus. Datenkontrolle ermöglicht die Kontrolle über die zu veröffentlichende Meinung; was dem maninstream widerspricht, wird von Wahrheitswächtern (“Faktencheck“) als fake news gebrandmarkt. Hingegen käme keine und niemand auf die Idee, Werbung oder die Predigten von den Kanzeln als fake news eines eingebildeten Paralleluniversums zu bezeichnen.
Digitale Medizin wird zum Heilmittel eines Gesundheitssektors, der vollkommen überfordert gemacht worden ist, die Grundbedürfnisse einer am Menschen orientierten Medizin zu befriedigen. Statt dessen werden wir noch entfremdeter als bisher mit Chatrobotern oder wildfremden Menschen am Bildschrim per Telemedizin unsere Wehwehchen abhandeln. Die mit dem Corona-Impfstoff eingeführte mRNA-Technologie wird sich auf weitere Krankheitsbilder übertragen lassen. Auch wenn heute noch nicht abschätzbar ist, was diese Impfstoffe langfristig mit unseren Körpern anstellen, so verheißt die damit einhergehende Nanotechnologie, einmal erfolgreich eingesetzt, neue Geschäftsfelder. Alternativen werden nicht mehr erforscht, Nebenwirkungen werden in aller Alternativlosigkeit abgetan. Impfstoffe, die nach anderen Verfahren hergestellt wurden (Astrazeneca, Sinovac etc.) wurden unter fadenscheinigen Vorwänden vom profitablen Markt verdrängt. Der digitale Gesundheitspaß der Corona-Pandemie ließe sich ganz allgemein zu Reise- und Bewegungsprivilegien erweitern. Letztlich kämen wir zur Umsetzung einer globalen, digital lesbaren Identität. Das sind keine Hirngespinste, sondern, wie die Autorin ausführt, in Ansätzen schon vorhanden.
Das neue kybernetische Zeitalter des sechsten Kondratieffs wäre also ein Zusammenwirken von Daten als Rohstoff und Biotechnologie als Technik und Ware einer neuen, schönen Gesundheitswelt. Zwangsläufig ist das nicht. Das angesprochene Gelegenheitsfenster zeigt jedoch, wie ein Weg zur Umsetzung dieses biotechnischen Datentraum(a)s beschritten werden könnte. Dann bleibt jedoch noch offen, ob China den Weg von der verlängerten Werkbank des westlichen Kapitals zu einem eigenständigen wirtschaftlichen Zentrum erfolgreich umsetzen kann. Dies könnte mit einer Neujustierung des Welthandels einhergehen und ist ohne kriegerische Auseinandersetzungen wohl kaum zu haben.
Ob ein solcher Krieg das kybernetische Zeitalter beflügelt oder eher torpediert, muß hier offen bleiben. Der historische Rückblick (die Hegemonialzyklen) legt nahe. daß es ohne nicht gehen wird. Der Krieg um die Hegemonie in der Ukraine ist nur ein Vorgeschmack. Überhaupt schreitet die Militarisierung der Zentren des Kapitals voran. Schon die Bekämpfung des Coronavirus wurde wie ein Krieg inszeniert.
Hat das kleine Virus aus Wuhan nun eine Zeitenwende eingeleitet? Für manche Beobachterinnen und Akteure des Weltgeschehens mag dies so sein. Ein Gelegenheitsfenster für den forcierten Umbruch von Wirtschaft und Gesellschaft hatte sich geöffnet. Manche haben dies befürwortet, andere waren nicht so angetan. Wie dem auch sei, eine weitere Büchse der Pandora wurde geöffnet und es gibt kein Zurück. Andrea Komlosy sieht darin den Vorboten einer kybernetischen Zukunft. Die Dystopie eines etwas anders entfesselten Kapitalismus steht im Raum. Politische Entmündigung und Unfrieden werden vorangetrieben. Der aktuelle Krieg in der Ukraine gehört dazu und erfordert, so die Autorin, konsequente Entmilitarisierung der Beziehungen, Verhandlungen statt Kriegsführung, und keinerlei Unterstützung irgendeiner Kriegspartei. Das klingt vernünftig, aber seit wann ist Vernunft ein Kriterium politischen Handelns? Die Zapatisten in Chiapas haben schon im März 2022 klargestellt, daß weder Putin noch Selenski zu unterstützen seien [15]. Im Grunde ist es eine Position, de man früher als proletarischen Internationalismus bezeichnet hätte und die heute um eine (antibaerbock'sche) feministische Vision erweitert werden muß. Es ist nicht unser Krieg, sondern derjenige der jeweiligen Eliten. Doch dies weist ebenso wie die Zurückweisung des Big Data-Fiebers über den Rahmen des Buches hinaus. Hier sind wir gefragt.
Ob wir der Autorin darin folgen mögen, daß eine anbrechende kybernetische Zukunft eine Zeitenwende, einen qualitativen Sprung innerhalb des Kapitalismus wie überhaupt der menschlichen Evolution darstellt, sei dahingestellt. Die Möglichkeit besteht. Das Material, welches sie vor uns ausbreitet, weist in diese Richtung. Es ist ein wichtiges Buch, das durchaus kontrovers zu diskutieren ist; und alleine schon aufgrund der Argumentation ist es eine erhellende Lektüre. Es ist ein Buch, das mich sehr nachdenklich gemacht hat, und das will etwas heißen.
Walter Kuhl
12. Januar 2023