Arn Strohmeyer : Falsche Loyalitäten
Kurzfassung

Arn Strohmeyer : Falsche Loyalitäten, Promedia Verlag, Wien, Herbst 2022, 175 Seiten, € 19,90, als eBook € 15,99.
Boykott
Am 17. Mai 2019 verabschiedete eine deutliche Mehrheit des Deutschen Bundestages eine von CDU, CSU, SPD und Grünen überfraktionell eingebrachte Resolution gegen die BDS-Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“. In der Begründung hieß es, die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Kampagne seien antisemitisch. [1]
BDS ist eine 2005 ins Leben gerufene Kampagne, die darauf zielt, die Okkupation und Kolonisation allen arabischen Landes durch den Staat Israel zu beenden. Dieses Ziel soll durch die wirtschaftliche, politische und kulturelle Isolation Israels erreicht werden. Dies schließt den Boykott von Waren aus Israel mit ein. Ob dieser Aufruf per se nicht nur antizionistisch, sondern auch antisemitisch ist, wird von jüdischen wie nichtjüdischen Einzelpersonen, Organisationen und staatlichen Akteuren unterschiedlich gesehen. Deren Einschätzung liegt immer ein jeweils eigenes politisches, wirtschaftliches und/oder Machtinteressen zugrunde. Eine „neutrale“ oder „wissenschaftlich“ interessenlose Definition dessen, was als antisemitisch gilt oder antisemitisch ist, gibt es nicht, erst recht heute. Denn jegliche Definition von Antisemitismus steht im konkreten Zusammenhang mit der jeweiligen und oft damit auch verbundenen Position zum Staat Israel und der israelischen Besatzung der Westbank und Gazas.
Ich persönlich halte aus verschiedenen, hier nicht im Einzelnen zu diskutierenden Gründen die BDS-Kampagne für problematisch und unterstütze sie auch nicht. Darüber habe ich vor vielen Jahren ausführlich mit Felicia Langer diskutiert, die nicht begreifen konnte, daß jemand wie ich, der sich nicht zuletzt mit seinen Besprechungen ihrer Bücher auf Darmstadts Lokalradio deutlich gegen die israelische Besatzungspolitik positioniert hat, den Boykott nicht unterstütze. Sie konnte meine in gewissen linken bzw. liberalen Kreisen verbreitete, vielleicht typisch deutsche Haltung zu derartigen gegen jüdische Unternehmungen gerichtreten Boykottaufrufen nicht nachvollziehen. (Wobei ich kein Problem mit einem Boykott von – nichtpalästinensichen – Waren und Dienstleistungen aus den besetzten Gebieten habe. Wie diese jedoch von Waren und Dienstleistungen aus Israel in den Grenzen von 1949 zu unterscheiden sind, ist eine Frage, die ich nicht sinnvoll beantworten kann.) Felicia Langer hatte lange genug in Israel gelebt und als engagierte Rechtsanwältin immer wieder und wieder erleben müssen, wie die Rechte von Palästinenserinnen und Palästinensern sowohl auf dem Territorium des Staates Israel in den Grenzen von 1949 als auch in den besetzten Gebieten, vor Ort und im Gerichtssaal, mit Füßen getreten wurden. Sie zog daraus ihre eigene Konsequenz und wanderte, ausgerechnet, nach Deutschland aus. Sie wollte nicht länger als Feigenblatt einer Justiz und Rechtsauffassung dienen, welche die arabischen Bewohnerinnen und Bewohner als Menschen zweiter Klasse behandelt.
Ich verdanke ihr, wie auch, um nur einige zu nennen, Amira Hass, Dan Bar-On, Gideon Levy, Keren Assaf, Michael Warschawski, Mosche Zuckermann, Sahar Khalifa und Uri Avnery, wichtige Einblicke in die israelische und palästinensische Realität; eine Realität, die ich nicht persönlich kenne [2]. Die Schlüsse, die ich daraus ziehe, sind dennoch meine eigenen. Unbehagen bereitet mir die etwas vage BDS-Vorstellung vom Ende der Okkupation und Kolonisation allen arabischen Landes. Streng genommen gehört die gesamte Fläche des Staates Israel in den Grenzen von 1949 dazu, denn das Terrirorium des Staates Israel ist ja einer jüdischen Siedlerkolonisation mit nachfolgender militärischer Besatzung weiterer Gebiete im Unabhängigkeitskrieg entsprungen. Nun ist die Staatlichkeit Israels seit 1949 ein Faktum, und ich sehe auch nicht, weshalb hier angesetzt werden sollte. Fast 75 Jahre danach ist es nicht zu vermitteln, auch diesen Teil früheren arabischen Landes in Frage zu stellen. Die Frage ist eher, was daraus folgt. Weder eine Einstaaten- noch eine Zweistaatenlösung für Israel und Palästina sind derzeit überzeugende Optionen; auch bleibt in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Rückkehrrecht der Menschen (und ihrer Nachfahren), die im Unabhängigkeitskrieg 1948/49 und später aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, zu klären. Die Nakba ist eine bis heute wirkende Realität.
Salzborn und die Kolonisierung
Samuel Salzborn gehört zum jüdischen Mainstream, der nach passenden Gründen sucht, um den jüdischen Siedlerkolonialismus zu leugnen. An einer Stelle schreibt er dazu: „Bereits vor Beginn des Ersten Weltkriegs hatte der Nationalfonds Keren Kajemet LeIsrael begonnen, Land in Palästina zu kaufen, das zum größten Teil zum Besitz meist im Ausland lebender arabischer Großgrundbesitzer gehörte. Die auf der ganzen Welt durch den Nationalfonds gesammelten Spenden wurden von der Jewish Agency verwaltet, die maßgeblich die Einwanderung nach Israel organisierte und den Aufbau eines Erziehungs- und Gesundheitswesens betrieb. Der vielmals erhobene Vorwurf, jüdische Siedler hätten das Land unrechtmäßig erworben und es handele sich um ‚zionistischen Siedlungskolonialismus‘, erweist sich dabei als nicht haltbar – schließlich wurden die arabischen Großgrundbesitzer keineswegs zum Verkauf gezwungen, sondern sie waren aufgrund der seit Jahrhundertbeginn stetig steigenden Landpreise geradezu motiviert zur Abgabe ihres Besitzes.“ [3]
Samuel Salzborn kommt es nicht in den Sinn, das auch ein simpler Kaufakt ein Gewaltverhältnis ausdrücken kann. Ein Verkauf von Land, das von einheimischen Fellachen bestellt wird oder als Weidegrund dient, muß von denjenigen, die von den Käufern dann mit ökonomisch begründeten Recht und vielleicht auch britischer Polizeiunterstützung von ihrem Land vertrieben werden, als Gewalt erscheinen. Ob die Großgrundbesitzer weit weg in Damaskus oder Konstantinopel oder sonstwo gelebt haben, ist irrelevant und dient nur dem Framing. Seht her, die hatten ja ohnehin kein Interesse an ihrem Land und haben es freiwillig aufgegeben. Ja klar, den Großgrundbesitzern gehörte das Land, sie haben ihre Fellachen ausgebeutet und abgeschöpft, aber diese Fellachen hatten immerhin noch eine Lebensgrundlage. Die Siedler haben ihnen dann den Fußtritt verabreicht, ganz marktkonform. Als bürgerlich Liberaler mag Salzborn damit kein Problem haben, aber die konkreten Menschen vor Ort haben das anders gesehen, gefühlt und daraufhin auch politisch gehandelt.
Auch wenn ich die BDS-Kampgne nicht unterstützen kann und will, so folgt für mich daraus nicht, ihren Vertreterinnen und Vertretern den Raum zur Debatte zu entziehen. Das ist Zensur. Abenteuerlich wird es, wenn Organisationen Fördermittel entzogen werden, die es wagen, BDS-Positionen aufzugreifen, oder städtische Räumlichkeiten zu versperren, nur weil möglicherweise vielleicht auch eine BDS-Position diskutiert werden könnte. Auch wenn der Beschluß des Deutschen Bundestages nicht rechtlich verbindlich ist, so soll er gezielt Kritik an der israelischen Besatzungspolitik unterbinden. (Es ist verlogen zu sagen, natürlich darf in diesem Land auch die Besatzung diskutiert werden [4], wenn genau diese Diskussion systematisch behindert wird.) Darum geht es; BDS ist nur ein Aufhänger für weiterreichende Maßnahmen. Denn ob BDS antisemitisch ist, muß konkret belegt und kann nicht abstrakt dekretiert werden. [5]
Damit reiht sich die Resolution des Deutschen Bundestages nahtlos in das ein, was der australische Historiker A. Dirk Moses den „Katechismus der Deutschen“ nennt. Dieser bestehe aus fünf Elementen, die kurz gefaßt besagen: Der Holocaust sei einzigartig, der Holocaust als Zivilisationsbruch sei das moralische Fundament der deutschen Nation, deshalb trage Deutschland gegenüber den hier lebenden Jüdinnen und Juden wie auch gegenüber dem Staat Israel eine besondere Verantwortung, was eine besondere Loyalität gegenüber Israel begründe, Antisemitismus sei ein spezifisch deutsches und von Rassismus zu unterscheidendes Phänomen, und: Antizionismus bedeute Antisemitismus. [6]
Stimmen
Hier setzt der in Bremen lebende Journalist und Schriftsteller Arn Strohmeyer an. Es ist nicht sein erstes Buch zum Israel-Palästina-Komplex. Wenn ich mir auf seiner Webseite die Anzahl der von ihm hierzu verfaßten Bücher und Artikel anschaue, so könnte ich nicht nur von einer Profession, sondern fast schon von einer Obsession sprechen. Schaue ich mir jedoch sein neuestes Werk „Falsche Loyalitäten“ an, so ist anstelle von Obession ein tiefes Gefühl von Gerechtigkeit zu spüren.
Sein Buch beginnt mit einem nützlichen Rekapitulieren bekannter Bruchstücke der jüdisch-israelischen Geschichte. Er führt uns zu dem geringe Interesse der jüdischen Siedler in Palästina an Nazideutschland und an der sukzessiven Vernichtung (nicht nur) der jüdischen Bevölkerung vor allem Mittel- und Osteuropas. Damit verbunden sei das geringe Interesse der zionistische Bewegung an der Rettung der europäischen Jüdinnen und Juden; wobei ihm bewußt ist, daß es wohl auch nur wenig Gestaltungsmacht gegeben hätte.
Schon andere (jüdische) Autoren haben darauf hingewiesen, daß in den beiden ersten Jahrzehnten der israelischen Staatlichkeit dort die Erinnerungen der Überlebenden der Schoa ein eher unscheinbares, gar unerwünschtes Thema gewesen sind. Das israelische Judentum, bestärkt durch den siegrechen Unabhängigkeitskrieg, sah sich als starkes Judentum. Wer sich in dieser Sichtweise willenlos zur Schlachtbank der Nazis führen ließ, paßte nicht in dieses Weltbild. Dabei gab es durchaus Beispiele aktiven jüdischen Widerstandes, etwa im Partisanenkrieg oder bei der Liquidation des Warschauer Gettos; aber vielleicht waren diese dem kollektiven Gedächtnis (noch) entsprungen. Diese Sicht auf die Schoa änderte sich nur langsam, und vielleicht markierte der Eichmann-Prozeß hier einen Wendepunkt. (Wobei Gaby Weber anhand freigegebener Archivalien herausgearbeitet hat, daß die heroische Geschichte der Entführung Eichmanns wohl nicht den Tatsachen entsprochen hat. [7]) Erst jetzt bekam die Schoa den Stellenwert, den sie heute hat. Als neues Verständnis setzte sich die Position durch, daß der Staat Israel Konsequenz der Schoa und einzig sicherer Zufluchtsort der Überlebenden sei. Von nun an vereinnahmte und benutzte die israelische Politik die Schoa für ihre eigennützigen machtpolitischen Zwecke und rechtfertigte seither jede (militärische) Antwort auf Angriffe auf die staatliche Existenz des Judentums.
Arn Strohmeyer untermauert seine Argumentation mit ausgiebig vortgetragenen Äußerungen jüdischer Autoren (nicht nur) aus Israel. Dies verdeutlicht zum einen, daß die staatsoffizielle Sicht auf die Schoa und die hiermit legitimierte Form der Besatzung Palästinas nicht die einzige innerhalb der jüdischen Community ist; eine andere Sicht im übrigen, die soziologisch und historisch sehr gut begründet ist. Zum anderen entgeht er damit einer möglichen Kritik, die seine Argumentaton als antisemitisch denunzieren könnte. Diese jüdischen Stimmen sind jedoch nicht der Mainstream und wirken daher ein wenig wie gezielt ausgesucht. Die bittere Wahrheit ist aber, daß diese jüdischen Stimmen in der öffentlichen Wahrnehmung und Wirkung ähnlich marginal sind wie die nicht sozialdemokratisierte westliche Linke generell.
Nach dieser eher kritischen Sicht auf das anfängliche Verhältnis des zionistischen Judentums zur Schoa wendet er sich der Frage zu, ob selbige wirklich so einzigartig war. Hierbei kann er auf die Forschungen der postkolonialen Theoriebildung zurückgreifen, welche die Schoa entweder als eine von vielen, wenn auch unterschiedlich motivierten Genoziden eines sich entwickelnden kapitalistischen Weltsystems begreift und/oder Elemente der Schoa als Folge der (nicht nur) deutschen Kolonialpolitik deutet. Es ist sicher banal und auch abgeschmackt zu sagen, jedes singuläre historische Ereignis sei einzigartig. Und ja, der industrielle Massenmord eines fanatisch antisemitischen Regimes hat es so in der Geschichte noch nicht gegeben. (Allerdings sollten wir die parallel verlaufende japanische Kriegsführung in China und Korea in den 1930er und 1940er Jahren nicht vergessen.) Unerklärlich ist die Schoa allerdings nicht. Der Weg von der Ausrottung der Herero und Nama zu den Vernichtungslagern Auschwitz und Sobibor ist zwar weit, aber durchaus begehbar. Sicher bestehen hier vollkommen andere Dimensionen des Horrors; wobei es für die Betroffenen einerlei gewesen ist, ob sie in der Wüste krepieren mußten oder vergast wurden. Eine Kausalität zwischen dem einen und dem anderen Horoor besteht nicht. Eher war es das, was wir heute „mindset“ nennen, aus derselben Quelle gespeist. Raoul Peck hat dies, unter Berufung auf eine Bemerkung von Joseph Conrad, in seinem Film „Rottet die Bestien aus!“ vielleicht nicht ganz wissenschaftlich, dafür aber assoziativ sehr gut herausgearbeitet und belegt. [8]
Religion
Der von A. Dirk Moses so genannte „Katechismus der Deutschen“ schließt sich an die staatsoffizielle israelische Deutung der Schoa an. Dieser Katechismus ist nicht uneigennützig, denn er bedient nicht nur israelische, sondern auch deutsche Interessen, wirtschaftlcihe, politische und militärische. Es gibt so etwas wie eine offizielle deutsche Erinnerungspolitik und, damit verbunden, auch eine quasi rituelle Deutung und Verurteilung von Antisemitismus. Die damit verbundenen Rituale dürften am Großteil der deutschen Bevölkerung abperlen. Nicht deswegen, weil der Antisemitismus tief verwurzelt wäre, das ist er nicht, wenn auch weit verbreitet. Hier wäre zu überlegen, ob es nicht auch das israelische Besatzungsregime ist, das auf regressive Weise verarbeitet wird. Eher noch wird diese Erinnerungskultur als ein Ritual einer eher kleinen politischen Elite und von linken und liberalen Schichten ausgeübt und wohl so auch wahrgenommen. Erreicht sie wirklich die Mehrheitsbevölkerung in dem Sinne, daß diese sich eine ziemlich deutsche Art der Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu eigen macht? (Vor einigen Jahren habe ich mit einer japanischen Studentin darüber gesprochen; sie wäre froh, wenn es etwas ähnliches im konservativen Japan überhaupt geben würde.)
Wenn ich beispielsweise das alljährliche Gedenken am Darmstädter Güterbahnhof nehme, von dem 1942/43 mehrere Eisenbahntransporte nach Treblinka und Theresienstadt abgingen, so versammeln sich dort immer wieder die gleichen Menschen eher gesetzteren Alters. Zwar hat lange Zeit Renate Dreeßen in ihrer Schule Schülerinnen und Schüler für diesen Aspekt der Darmstädter Geschichte zu sensibilisieren versucht, und das ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst, aber ob davon viel hängengeblieben ist? Ich persönlich habe diese Art Gedenkkultur immer für aufgesetzt gehalten und deshalb erst spät begonnen, meinen eigenen Umgang mit der NS-Zeit und der Schoa zu finden. Nichtsdestotrotz habe ich jahrelang diese Veranstaltung aufgezeichnet und in Darmstadts Lokalradio gesendet. [9]
Der von Arn Strohmeyer anhand der Thesen von A. Dirk Moses diskursiv abgehandelte „Katechismus der Deutschen“ umfaßt mehrere Beobachtungen, die eingehender betrachtet werden; und dies ist auch der Hauptteil des Buches. Dazu gehört die Feststellung, daß Antisemitismus werde als etwas sehr Deutsches betrachtet werde. Nun ist Antisemitismus ein eher gesamteuropäisches Phänomen, der in seiner christlichen wie modern-biologischen Fassung immer wieder mörderisch wirkte. Dies geschah schon im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, aber findet sich auch in den Pogromen in Polen und Rußland im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert; oder bei den Banden des ukrainischen Nationalhelden Stepan Bandera. Dies näher zu untersuchen, ist hier nicht der Ort, aber daraus eine ganz spezifisch deutsche Verantwortung abzuleiten, gar eine, die Auschwitz überall wähnt und mit Waffengewalt zu bekämpfen sucht, ergibt – nun, seinen eigenen Sinn. Erst recht, wenn deutsche Verfassungsschützer mitunter kaum von neonazistischen Kadern zu unterscheiden sind und beim NSU-Komplex von staatlichen Stellen zugemauert wird, was nicht schon geschreddert wurde.
Zwangsläufig kommt Arn Strohmeyer zu kontrovers bis ablehnend behandelten Positionen wie die, Israel sei einer Siedlerkolonie und ein Apartheidstaat. Die Aussage, Israel sei eine Siedlerkolonie (oder aus einer solchen entstanden) oder gar ein Apartheidstaat, trifft das Establishment der deutsch-israelischen Verbundenheit jedoch an einer verwundbaren Stelle. Denn das erstere ist historisch richtig hergeleitet und das zweite eine Frage der Betrachtungsweise. Ich ziehe es vor, die südafrikanische Apartheid, den israelischen Umgang mit Arabern und Palästinenserinnen und die bis heute (informell) anhaltende Segregation in den USA als drei Nuancen derselben rassistischen Politik zu betrachten. Wer glaubt, Israel sei keine rassistische Gesellschaft, braucht nur zu einem Fußballspiel von Beitar Jerusalem zu gehen, wenn die als arabisch konnotierte Mannschaft von Bnei Sachnin zu Gast ist; und das ist nur ein Beispiel populärer „Folklore“ unter vielen, die bis in höchste Regierungskreise reicht. Was die Apartheid betrifft, so schreibt das israelisch-palästinensische Onlinemagazin „+972 magazine“ in seinem redaktionellen Selbstverständnis:
„To better reflect these facts, we have changed the standard language we use to describe the regime in Israel-Palestine. When +972 was founded, the word ‚occupation‘ sufficed for many. Today, as a result of both developments on the ground and the tireless activism of Palestinians and allies, the word ‚apartheid‘ has become a more apt description of the system of separation and supremacism that exists between the river and the sea. This term does not negate the framings of ‚occupation‘ or ‚colonialism‘ – both of which we also use on the site – but rather is intended to help establish a baseline from which readers, journalists, and other observers can understand the present realities.“ [10]
Und genau darum geht es: die Realität zu verstehen. Selbstverständlich wissen die Entscheidungsträgerinnen und -träger in Deutschland, Israel und der übrigen jüdischen Welt um diese Realität. Sie sind ja nicht dumm und blind. Sie wissen genau, was sie tun, sie wissen genau, wen sie unterstützen, und sie wissen genau, warum sie das gut finden. Sie wissen aber auch, daß sie das nicht immer so deutlich sagen können, also gibt es dafür ein Framing.
Doch zurück zu dem hier besprochenen Buch. Für Arn Strohmeyer ist, wenn auch aus vielleicht anderen Gründen als in meiner Sichtweise, die deutsche Erinnerungspolitik gescheitert. Er knüpft an den Gedanken des „funktionalen Antisemitismus“ an, dem konsequent eine verordnete Erinnerung nachfolgt, die keine Abweichung von einem vorgegebenen Kanon duldet; etwa der Einzigartigkeit und Unbegreiflichkeit der Schoa. Wem das nutzt, fragt er sich und uns, und er antwortet, Israel. Israel kann als ganz normale Demokratie erscheinen, die Besatzung fällt in der staatsoffiziellen Selbstdeutung und Selbstvergewisserung beider Staaten in der Regel unter den Tisch. Hier besteht eine Loyalität mit weitreichenden Konsequenzen.
„Die deutsche Politik folgt diesen israelischen Vorgaben wegen des immer noch lastenden Schuldgefühls und dem Bestreben nach Entsühnung in devoter Weise. Wie sie mit einer solchen Politik aus der fatalen und widerspruchsvollen Verstrickung von Philosemitismus, Unterstützung des siedlerkolonialistischen Besatzungsstaates bei gleichzeitiger Propagierung universalistischer Werte herauskommen will, bleibt ihr Geheimnis.“ [11]
Werte
Das ist nicht schwer zu begreifen: denn genau das sind die vielbeschworenen westlichen Werte. Israel ist ein ganz normaler Staat der westlichen Wertegemeinschaft. (Ich könnte hier noch die Frage aufwerfen, was als Demokratie gilt und was nicht. Es gibt lupenreine Demokratien, bewaffnete Demokratien, wahlfälschende Demokratien und Demokratien, die von rassistischen Politikerinnen und Politikern geleitet werden. Demokratie ist ein rein formaler Begriff für verschiedene Ausprägungen bürgerlicher Herrschaft. Wir sollten nicht der Illusion verfallen, nur dort Demokratie sehen zu wollen, wo sie unseren hehren Wertvorstellungen genügt. [12]) Wenn Arn Strohmeyer auf seiner Webseite schreibt, er habe sich ein Ideal von „bürgerlicher Aufklärung“ bewahrt, dann ist es genau dieser aufklärerische Geist, der sein Buch „Falsche Loyalitäten“ durchströmt. Schon deshalb ist es lesenswert. Aber das Ideal scheitert an der Realität.
Ich gebe zu, daß ich im vergangenen Jahrzehnt die Ergebnisse postkolonialistischer Theorie allenfalls am Rande wahrgenommen habe. Wenn sie jedoch so ist, wie ich sie verstehe, dann muß dieses bürgerlich-aufklärerische Ideal brüchig erscheinen und bedarf dringend einer ideologiekritischen Revision. Auschwitz war, und da wird mir der Autor wohl zustimmen, nicht der Zivilisationsbruch, als der er ritualisiert verhandelt wird. Auschwitz ist vielmehr eine (wenn auch nicht zwingende) Konsequenz der Durchsetzung europäisch-kapitalistischer Herrschaft und Wertvorstellungen. Die sich im 18. Jahrhundert entfaltende sogenannte Aufklärung mag universalistisch erscheinen und sich auch als solche gesehen haben. Funktional betrachtet hingegen begleitete sie den Aufstieg des Bürgertums und der aufstrebenden Bourgeoisie, und zwar gegen den Absolutismus und gegen die gefährlichen subalternen Klassen; von den nichtweißen Indigenen der übrigen Welt ganz zu schweigen. Das Kapital selbst strebt nach Universalität, aber es inkludiert nicht alle Menschen und Milieus, ganz im Gegenteil; Exklusion und Ausrottung sind die Kehrseite. Raoul Peck, geboren auf Haiti, verweist zurecht darauf, daß es die Haitianerinnen und Haitianer waren, die den eurozentriert-weißen Anspruch auf Universalität mit ihrer eigenen (schwarzen) Revolution 1791/1804 durchbrachen; und die bis heute dafür büßen müssen.
Als sich Angela Merkel und Barack Obama beim Evangelischen Kirchentag im Mai 2017 über Ethik austauschten, war genau diese universalistische Ethik gemeint. Sie geht einher mit Drohnenkrieg und Anbiederung an George W. Bush, mit Guantanamo, Kundus und ersaufenden Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer. Daß ausgerechnet diese Beiden über Ethik parlierten, wurde nicht als Skandal aufgegriffen. Es wurde allenfalls ein bißchen mißfallend gemurmelt [13]. Mehr gibt es zu Israel und seinem Regime über die Westbank und Gaza dann auch nicht zu sagen. Zumindest dann nicht, wenn dieselbe Angela Merkel und der derzeitige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Jerusalem den erwarteten Sermon abspulen. Vielleicht glauben sie sogar daran. Es ist aber nicht länger ein belastendes Schuldgefühl, daß diese Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Politik bedrängt. Das ist der ideologische Mantel; das ist für uns. Die Realität ist viel banaler. Das Gerede von Schuld und Sühne ist nützlich, um sich gegenseitig mit Waffen und Überwachungstechnologie zu versorgen und sich ansonsten unverbrüchlicher Freundschaft in allen Lebenslagen zu versichern.
Arn Strohmeyer beendet sein Buch mit einer Anmerkung zu einem Buch von Samuel Salzborn. Dieser geht ebenfalls davon aus, wenn auch ganz anders begründet, daß die deutsche Erinnerungspolitik gescheitert sei. Das kann seiner Ansicht nach auch gar nicht anders sein, denn so gut wie alle Deutschen sind schuldig, auch die Enkelinnen und Enkel der Täter und Nichttäterinnen. Das erinnert an ein wohl weit verbreitetes israelisch-jüdisches Narrativ, wonach alle Deutschen Nazis seien. Nun denn, wenn er meint …
Diffamierung
Es ist nicht allzu weit hergeholt zu behaupten, daß der Vorwurf des Antisemitismus als persönliche wie politische Allzweckwaffe auch außerhalb des direkten israelisch-palästinensischen Zusammenhangs genutzt wird. Das Lokalradio in Darmstadt, in dem ich jahrelang meine Sendungen habe ausstrahlen lassen, wollte mich und den Gründer des Trägervereins dieses Radios unbedingt loswerden. Als alles nicht half, griff der Verein und sein Vorstand zu einigen unschönen Verdächtigungen. Hiermit sollten wir bei der hessischen Landesmedienanstalt und in einem Zivilverfahren diskreditiert werden. Dazu habe ich am 10. Januar 2011 eine eigene Radiosendung gestaltet; das Sendemanuskript ist hier nachzulesen.
Eine mehr persönliche Begegnung mit einem in Theresienstadt ermordeten jüdischen Ehepaar habe ich in meinem Artikel Stolpersteine in der Landwehrstraße beschrieben.
Eine emanzipatorische Erinnerungspolitik hat also noch viel aufzuarbeiten. Die Auseinandersetzung mit dem „Katechismus der Deutschen“ wäre hierbei ein wichtiger Baustein. Und so gesehen lohnt auch die Lektüre über die „falsche Loyalitäten“. Wem gegenüber sollten wir stattdessen loyal sein und warum?
Walter Kuhl
8. Oktober 2022