Koreanische Schrifttafeln.
Reflexionen über die Änderung der Welt
Walter Kuhl
Koreanische Schrifttafeln.
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Rezensionen / Buchbesprechungen

Arn Strohmeyer : Falsche Loyalitäten

Buchcover.

Arn Strohmeyer : Falsche Loyalitäten, Promedia Verlag, Wien, Herbst 2022, 175 Seiten, € 19,90, als eBook € 15,99.

Boykott

Am 17. Mai 2019 verabschiedete eine deutliche Mehrheit des Deutschen Bundestages eine von CDU, CSU, SPD und Grünen über­fraktionell eingebrachte Resolution gegen die BDS-Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“. In der Begründung hieß es, die Argumentations­muster und Methoden der BDS-Kampagne seien anti­semitisch. [1]

BDS ist eine 2005 ins Leben gerufene Kampagne, die darauf zielt, die Okkupation und Kolonisation allen arabischen Landes durch den Staat Israel zu beenden. Dieses Ziel soll durch die wirt­schaftliche, politische und kulturelle Isolation Israels erreicht werden. Dies schließt den Boykott von Waren aus Israel mit ein. Ob dieser Aufruf per se nicht nur anti­zionistisch, sondern auch anti­semitisch ist, wird von jüdischen wie nicht­jüdischen Einzelpersonen, Organisationen und staatlichen Akteuren unter­schiedlich gesehen. Deren Einschätzung liegt immer ein jeweils eigenes politisches, wirt­schaftliches und/oder Macht­interessen zugrunde. Eine „neutrale“ oder „wissen­schaftlich“ interessen­lose Definition dessen, was als anti­semitisch gilt oder anti­semitisch ist, gibt es nicht, erst recht heute. Denn jegliche Definition von Anti­semitismus steht im konkreten Zusammen­hang mit der jeweiligen und oft damit auch verbundenen Position zum Staat Israel und der israelischen Besatzung der Westbank und Gazas.

Ich persönlich halte aus verschiedenen, hier nicht im Einzelnen zu diskutierenden Gründen die BDS-Kampagne für problematisch und unter­stütze sie auch nicht. Darüber habe ich vor vielen Jahren ausführ­lich mit Felicia Langer diskutiert, die nicht begreifen konnte, daß jemand wie ich, der sich nicht zuletzt mit seinen Besprechungen ihrer Bücher auf Darmstadts Lokalradio deutlich gegen die israelische Besatzungs­politik positioniert hat, den Boykott nicht unter­stütze. Sie konnte meine in gewissen linken bzw. liberalen Kreisen verbreitete, vielleicht typisch deutsche Haltung zu derartigen gegen jüdische Unter­nehmungen gerichtreten Boykott­aufrufen nicht nachvoll­ziehen. (Wobei ich kein Problem mit einem Boykott von – nicht­palästinensichen – Waren und Dienst­leistungen aus den besetzten Gebieten habe. Wie diese jedoch von Waren und Dienst­leistungen aus Israel in den Grenzen von 1949 zu unter­scheiden sind, ist eine Frage, die ich nicht sinnvoll beantworten kann.) Felicia Langer hatte lange genug in Israel gelebt und als engagierte Rechts­anwältin immer wieder und wieder erleben müssen, wie die Rechte von Palästi­nenserinnen und Palästi­nensern sowohl auf dem Territorium des Staates Israel in den Grenzen von 1949 als auch in den besetzten Gebieten, vor Ort und im Gerichts­saal, mit Füßen getreten wurden. Sie zog daraus ihre eigene Konsequenz und wanderte, ausgerechnet, nach Deutschland aus. Sie wollte nicht länger als Feigenblatt einer Justiz und Rechts­auffassung dienen, welche die arabischen Bewoh­nerinnen und Bewohner als Menschen zweiter Klasse behandelt.

Ich verdanke ihr, wie auch, um nur einige zu nennen, Amira Hass, Dan Bar-On, Gideon Levy, Keren Assaf, Michael Warschawski, Mosche Zuckermann, Sahar Khalifa und Uri Avnery, wichtige Einblicke in die israelische und palästi­nensische Realität; eine Realität, die ich nicht persönlich kenne [2]. Die Schlüsse, die ich daraus ziehe, sind dennoch meine eigenen. Unbehagen bereitet mir die etwas vage BDS-Vorstellung vom Ende der Okkupation und Kolonisation allen arabischen Landes. Streng genommen gehört die gesamte Fläche des Staates Israel in den Grenzen von 1949 dazu, denn das Terrirorium des Staates Israel ist ja einer jüdischen Siedler­kolonisation mit nach­folgender militärischer Besatzung weiterer Gebiete im Unabhängigkeits­krieg entsprungen. Nun ist die Staatlich­keit Israels seit 1949 ein Faktum, und ich sehe auch nicht, weshalb hier angesetzt werden sollte. Fast 75 Jahre danach ist es nicht zu vermitteln, auch diesen Teil früheren arabischen Landes in Frage zu stellen. Die Frage ist eher, was daraus folgt. Weder eine Einstaaten- noch eine Zweistaaten­lösung für Israel und Palästina sind derzeit über­zeugende Optionen; auch bleibt in diesem Zusammen­hang die Frage nach dem Rückkehr­recht der Menschen (und ihrer Nachfahren), die im Unabhängigkeits­krieg 1948/49 und später aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, zu klären. Die Nakba ist eine bis heute wirkende Realität.

Salzborn und die Kolonisierung

Samuel Salzborn gehört zum jüdischen Mainstream, der nach passenden Gründen sucht, um den jüdischen Siedler­kolonialismus zu leugnen. An einer Stelle schreibt er dazu: „Bereits vor Beginn des Ersten Weltkriegs hatte der Nationalfonds Keren Kajemet LeIsrael begonnen, Land in Palästina zu kaufen, das zum größten Teil zum Besitz meist im Ausland lebender arabischer Groß­grundbesitzer gehörte. Die auf der ganzen Welt durch den Nationalfonds gesammelten Spenden wurden von der Jewish Agency verwaltet, die maßgeblich die Einwanderung nach Israel organisierte und den Aufbau eines Erziehungs- und Gesundheits­wesens betrieb. Der vielmals erhobene Vorwurf, jüdische Siedler hätten das Land unrecht­mäßig erworben und es handele sich um ‚zionistischen Siedlungs­kolonialismus‘, erweist sich dabei als nicht haltbar – schließlich wurden die arabischen Großgrund­besitzer keineswegs zum Verkauf gezwungen, sondern sie waren aufgrund der seit Jahrhundert­beginn stetig steigenden Landpreise geradezu motiviert zur Abgabe ihres Besitzes.“ [3]

Samuel Salzborn kommt es nicht in den Sinn, das auch ein simpler Kaufakt ein Gewalt­verhältnis ausdrücken kann. Ein Verkauf von Land, das von einheimischen Fellachen bestellt wird oder als Weidegrund dient, muß von denjenigen, die von den Käufern dann mit ökonomisch begründeten Recht und vielleicht auch britischer Polizei­unterstützung von ihrem Land vertrieben werden, als Gewalt erscheinen. Ob die Groß­grundbesitzer weit weg in Damaskus oder Konstan­tinopel oder sonstwo gelebt haben, ist irrelevant und dient nur dem Framing. Seht her, die hatten ja ohnehin kein Interesse an ihrem Land und haben es freiwillig aufgegeben. Ja klar, den Groß­grundbesitzern gehörte das Land, sie haben ihre Fellachen ausgebeutet und abgeschöpft, aber diese Fellachen hatten immerhin noch eine Lebens­grundlage. Die Siedler haben ihnen dann den Fußtritt verabreicht, ganz markt­konform. Als bürgerlich Liberaler mag Salzborn damit kein Problem haben, aber die konkreten Menschen vor Ort haben das anders gesehen, gefühlt und daraufhin auch politisch gehandelt.

Auch wenn ich die BDS-Kampgne nicht unterstützen kann und will, so folgt für mich daraus nicht, ihren Vertreter­innen und Vertretern den Raum zur Debatte zu entziehen. Das ist Zensur. Abenteuer­lich wird es, wenn Organi­sationen Förder­mittel entzogen werden, die es wagen, BDS-Positionen aufzugreifen, oder städtische Räumlich­keiten zu versperren, nur weil möglicher­weise vielleicht auch eine BDS-Position diskutiert werden könnte. Auch wenn der Beschluß des Deutschen Bundestages nicht rechtlich verbindlich ist, so soll er gezielt Kritik an der israelischen Besatzungs­politik unterbinden. (Es ist verlogen zu sagen, natürlich darf in diesem Land auch die Besatzung diskutiert werden [4], wenn genau diese Diskussion systematisch behindert wird.) Darum geht es; BDS ist nur ein Aufhänger für weiter­reichende Maßnahmen. Denn ob BDS anti­semitisch ist, muß konkret belegt und kann nicht abstrakt dekretiert werden. [5]

Damit reiht sich die Resolution des Deutschen Bundestages nahtlos in das ein, was der australische Historiker A. Dirk Moses den „Katechismus der Deutschen“ nennt. Dieser bestehe aus fünf Elementen, die kurz gefaßt besagen: Der Holocaust sei einzigartig, der Holocaust als Zivilisations­bruch sei das moralische Fundament der deutschen Nation, deshalb trage Deutschland gegenüber den hier lebenden Jüdinnen und Juden wie auch gegenüber dem Staat Israel eine besondere Verantwortung, was eine besondere Loyalität gegenüber Israel begründe, Anti­semitismus sei ein spezifisch deutsches und von Rassismus zu unter­scheidendes Phänomen, und: Anti­zionismus bedeute Anti­semitismus. [6]

Stimmen

Hier setzt der in Bremen lebende Journalist und Schriftsteller Arn Strohmeyer an. Es ist nicht sein erstes Buch zum Israel-Palästina-Komplex. Wenn ich mir auf seiner Webseite die Anzahl der von ihm hierzu verfaßten Bücher und Artikel anschaue, so könnte ich nicht nur von einer Profession, sondern fast schon von einer Obsession sprechen. Schaue ich mir jedoch sein neuestes Werk „Falsche Loyalitäten“ an, so ist anstelle von Obession ein tiefes Gefühl von Gerechtig­keit zu spüren.

Sein Buch beginnt mit einem nützlichen Rekapitulieren bekannter Bruch­stücke der jüdisch-israelischen Geschichte. Er führt uns zu dem geringe Interesse der jüdischen Siedler in Palästina an Nazi­deutschland und an der sukzessiven Vernichtung (nicht nur) der jüdischen Bevölkerung vor allem Mittel- und Osteuropas. Damit verbunden sei das geringe Interesse der zionistische Bewegung an der Rettung der europäischen Jüdinnen und Juden; wobei ihm bewußt ist, daß es wohl auch nur wenig Gestaltungs­macht gegeben hätte.

Schon andere (jüdische) Autoren haben darauf hingewiesen, daß in den beiden ersten Jahr­zehnten der israelischen Staatlich­keit dort die Erinnerungen der Überlebenden der Schoa ein eher unscheinbares, gar uner­wünschtes Thema gewesen sind. Das israelische Judentum, bestärkt durch den siegrechen Unabhängig­keitskrieg, sah sich als starkes Judentum. Wer sich in dieser Sichtweise willenlos zur Schlacht­bank der Nazis führen ließ, paßte nicht in dieses Weltbild. Dabei gab es durchaus Beispiele aktiven jüdischen Widerstandes, etwa im Partisanen­krieg oder bei der Liquidation des Warschauer Gettos; aber vielleicht waren diese dem kollektiven Gedächtnis (noch) entsprungen. Diese Sicht auf die Schoa änderte sich nur langsam, und vielleicht markierte der Eichmann-Prozeß hier einen Wendepunkt. (Wobei Gaby Weber anhand frei­gegebener Archivalien heraus­gearbeitet hat, daß die heroische Geschichte der Entführung Eichmanns wohl nicht den Tatsachen entsprochen hat. [7]) Erst jetzt bekam die Schoa den Stellenwert, den sie heute hat. Als neues Verständnis setzte sich die Position durch, daß der Staat Israel Konsequenz der Schoa und einzig sicherer Zufluchts­ort der Über­lebenden sei. Von nun an vereinnahmte und benutzte die israelische Politik die Schoa für ihre eigen­nützigen macht­politischen Zwecke und rechtfertigte seither jede (militärische) Antwort auf Angriffe auf die staatliche Existenz des Judentums.

Arn Strohmeyer untermauert seine Argumentation mit ausgiebig vortgetragenen Äußerungen jüdischer Autoren (nicht nur) aus Israel. Dies verdeutlicht zum einen, daß die staats­offizielle Sicht auf die Schoa und die hiermit legitimierte Form der Besatzung Palästinas nicht die einzige innerhalb der jüdischen Community ist; eine andere Sicht im übrigen, die soziologisch und historisch sehr gut begründet ist. Zum anderen entgeht er damit einer möglichen Kritik, die seine Argumentaton als anti­semitisch denunzieren könnte. Diese jüdischen Stimmen sind jedoch nicht der Mainstream und wirken daher ein wenig wie gezielt ausgesucht. Die bittere Wahrheit ist aber, daß diese jüdischen Stimmen in der öffent­lichen Wahr­nehmung und Wirkung ähnlich marginal sind wie die nicht sozial­demokratisierte westliche Linke generell.

Nach dieser eher kritischen Sicht auf das anfängliche Verhältnis des zionistischen Judentums zur Schoa wendet er sich der Frage zu, ob selbige wirklich so einzigartig war. Hierbei kann er auf die Forschungen der post­kolonialen Theorie­bildung zurück­greifen, welche die Schoa entweder als eine von vielen, wenn auch unterschiedlich motivierten Genoziden eines sich entwickelnden kapita­listischen Welt­systems begreift und/oder Elemente der Schoa als Folge der (nicht nur) deutschen Kolonial­politik deutet. Es ist sicher banal und auch abgeschmackt zu sagen, jedes singuläre historische Ereignis sei einzigartig. Und ja, der industrielle Massenmord eines fanatisch anti­semitischen Regimes hat es so in der Geschichte noch nicht gegeben. (Allerdings sollten wir die parallel verlaufende japanische Kriegs­führung in China und Korea in den 1930er und 1940er Jahren nicht vergessen.) Uner­klärlich ist die Schoa allerdings nicht. Der Weg von der Ausrottung der Herero und Nama zu den Vernichtungs­lagern Auschwitz und Sobibor ist zwar weit, aber durchaus begehbar. Sicher bestehen hier vollkommen andere Dimensionen des Horrors; wobei es für die Betroffenen einerlei gewesen ist, ob sie in der Wüste krepieren mußten oder vergast wurden. Eine Kausalität zwischen dem einen und dem anderen Horoor besteht nicht. Eher war es das, was wir heute „mindset“ nennen, aus derselben Quelle gespeist. Raoul Peck hat dies, unter Berufung auf eine Bemerkung von Joseph Conrad, in seinem Film „Rottet die Bestien aus!“ vielleicht nicht ganz wissen­schaftlich, dafür aber assoziativ sehr gut heraus­gearbeitet und belegt. [8]

Religion

Der von A. Dirk Moses so genannte „Katechismus der Deutschen“ schließt sich an die staats­offizielle israelische Deutung der Schoa an. Dieser Katechismus ist nicht uneigen­nützig, denn er bedient nicht nur israelische, sondern auch deutsche Interessen, wirt­schaftlcihe, politische und militärische. Es gibt so etwas wie eine offizielle deutsche Erinnerungs­politik und, damit verbunden, auch eine quasi rituelle Deutung und Verurteilung von Anti­semitismus. Die damit verbundenen Rituale dürften am Großteil der deutschen Bevölkerung abperlen. Nicht deswegen, weil der Anti­semitismus tief verwurzelt wäre, das ist er nicht, wenn auch weit verbreitet. Hier wäre zu überlegen, ob es nicht auch das israelische Besatzungs­regime ist, das auf regressive Weise verarbeitet wird. Eher noch wird diese Erinnerungs­kultur als ein Ritual einer eher kleinen politischen Elite und von linken und liberalen Schichten ausgeübt und wohl so auch wahr­genommen. Erreicht sie wirklich die Mehrheits­bevölkerung in dem Sinne, daß diese sich eine ziemlich deutsche Art der Aufarbeitung des National­sozialismus zu eigen macht? (Vor einigen Jahren habe ich mit einer japanischen Studentin darüber gesprochen; sie wäre froh, wenn es etwas ähnliches im konservativen Japan überhaupt geben würde.)

Wenn ich beispiels­weise das alljährl­iche Gedenken am Darmstädter Güter­bahnhof nehme, von dem 1942/43 mehrere Eisenbahn­transporte nach Treblinka und Theresien­stadt abgingen, so versammeln sich dort immer wieder die gleichen Menschen eher gesetzteren Alters. Zwar hat lange Zeit Renate Dreeßen in ihrer Schule Schülerinnen und Schüler für diesen Aspekt der Darmstädter Geschichte zu sensibilisieren versucht, und das ist ein nicht zu unter­schätzendes Verdienst, aber ob davon viel hängen­geblieben ist? Ich persönlich habe diese Art Gedenkkultur immer für aufgesetzt gehalten und deshalb erst spät begonnen, meinen eigenen Umgang mit der NS-Zeit und der Schoa zu finden. Nichts­destotrotz habe ich jahrelang diese Veranstaltung aufgezeichnet und in Darmstadts Lokalradio gesendet. [9]

Der von Arn Strohmeyer anhand der Thesen von A. Dirk Moses diskursiv abgehandelte „Katechismus der Deutschen“ umfaßt mehrere Beobachtungen, die eingehender betrachtet werden; und dies ist auch der Hauptteil des Buches. Dazu gehört die Fest­stellung, daß Anti­semitismus werde als etwas sehr Deutsches betrachtet werde. Nun ist Anti­semitismus ein eher gesamt­europäisches Phänomen, der in seiner christlichen wie modern-biologischen Fassung immer wieder mörderisch wirkte. Dies geschah schon im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, aber findet sich auch in den Pogromen in Polen und Rußland im 19. und beginnenden 20. Jahr­hundert; oder bei den Banden des ukrainischen National­helden Stepan Bandera. Dies näher zu untersuchen, ist hier nicht der Ort, aber daraus eine ganz spezifisch deutsche Verantwortung abzuleiten, gar eine, die Auschwitz überall wähnt und mit Waffengewalt zu bekämpfen sucht, ergibt – nun, seinen eigenen Sinn. Erst recht, wenn deutsche Verfassungs­schützer mitunter kaum von neo­nazistischen Kadern zu unter­scheiden sind und beim NSU-Komplex von staatlichen Stellen zugemauert wird, was nicht schon geschreddert wurde.

Zwangsläufig kommt Arn Strohmeyer zu kontrovers bis ablehnend behandelten Positionen wie die, Israel sei einer Siedler­kolonie und ein Apartheid­staat. Die Aussage, Israel sei eine Siedler­kolonie (oder aus einer solchen entstanden) oder gar ein Apartheid­staat, trifft das Establishment der deutsch-israelischen Verbunden­heit jedoch an einer verwundbaren Stelle. Denn das erstere ist historisch richtig hergeleitet und das zweite eine Frage der Betrachtungs­weise. Ich ziehe es vor, die süd­afrikanische Apartheid, den israelischen Umgang mit Arabern und Palästi­nenserinnen und die bis heute (informell) anhaltende Segregation in den USA als drei Nuancen derselben rassistischen Politik zu betrachten. Wer glaubt, Israel sei keine rassistische Gesellschaft, braucht nur zu einem Fußball­spiel von Beitar Jerusalem zu gehen, wenn die als arabisch konnotierte Mannschaft von Bnei Sachnin zu Gast ist; und das ist nur ein Beispiel populärer „Folklore“ unter vielen, die bis in höchste Regierungs­kreise reicht. Was die Apartheid betrifft, so schreibt das israelisch-palästi­nensische Onlinemagazin „+972 magazine“ in seinem redaktionellen Selbst­verständnis:

„To better reflect these facts, we have changed the standard language we use to describe the regime in Israel-Palestine. When +972 was founded, the word ‚occupation‘ sufficed for many. Today, as a result of both developments on the ground and the tireless activism of Palestinians and allies, the word ‚apartheid‘ has become a more apt description of the system of separation and supre­macism that exists between the river and the sea. This term does not negate the framings of ‚occupation‘ or ‚colonialism‘ – both of which we also use on the site – but rather is intended to help establish a baseline from which readers, journalists, and other observers can understand the present realities.“ [10]

Und genau darum geht es: die Realität zu verstehen. Selbst­verständlich wissen die Entscheidungs­trägerinnen und -träger in Deutsch­land, Israel und der übrigen jüdischen Welt um diese Realität. Sie sind ja nicht dumm und blind. Sie wissen genau, was sie tun, sie wissen genau, wen sie unterstützen, und sie wissen genau, warum sie das gut finden. Sie wissen aber auch, daß sie das nicht immer so deutlich sagen können, also gibt es dafür ein Framing.

Doch zurück zu dem hier besprochenen Buch. Für Arn Strohmeyer ist, wenn auch aus vielleicht anderen Gründen als in meiner Sichtweise, die deutsche Erinnerungs­politik gescheitert. Er knüpft an den Gedanken des „funktionalen Anti­semitismus“ an, dem konsequent eine verordnete Erinnerung nachfolgt, die keine Abweichung von einem vorgegebenen Kanon duldet; etwa der Einzigartig­keit und Unbegreif­lichkeit der Schoa. Wem das nutzt, fragt er sich und uns, und er antwortet, Israel. Israel kann als ganz normale Demokratie erscheinen, die Besatzung fällt in der staats­offiziellen Selbst­deutung und Selbst­vergewisserung beider Staaten in der Regel unter den Tisch. Hier besteht eine Loyalität mit weit­reichenden Konsequenzen.

„Die deutsche Politik folgt diesen israelischen Vorgaben wegen des immer noch lastenden Schuld­gefühls und dem Bestreben nach Entsühnung in devoter Weise. Wie sie mit einer solchen Politik aus der fatalen und wider­spruchsvollen Verstrickung von Philo­semitismus, Unterstützung des siedler­kolonialistischen Besatzungs­staates bei gleichzeitiger Propagierung univer­salistischer Werte herauskommen will, bleibt ihr Geheimnis.“ [11]

Werte

Das ist nicht schwer zu begreifen: denn genau das sind die viel­beschworenen westlichen Werte. Israel ist ein ganz normaler Staat der westlichen Werte­gemeinschaft. (Ich könnte hier noch die Frage aufwerfen, was als Demokratie gilt und was nicht. Es gibt lupenreine Demokratien, bewaffnete Demokratien, wahl­fälschende Demokratien und Demokratien, die von rassistischen Politikerinnen und Politikern geleitet werden. Demokratie ist ein rein formaler Begriff für verschiedene Ausprägungen bürger­licher Herrschaft. Wir sollten nicht der Illusion verfallen, nur dort Demokratie sehen zu wollen, wo sie unseren hehren Wert­vorstellungen genügt. [12]) Wenn Arn Strohmeyer auf seiner Webseite schreibt, er habe sich ein Ideal von „bürgerlicher Aufklärung“ bewahrt, dann ist es genau dieser aufklärerische Geist, der sein Buch „Falsche Loyalitäten“ durch­strömt. Schon deshalb ist es lesenswert. Aber das Ideal scheitert an der Realität.

Ich gebe zu, daß ich im vergangenen Jahrzehnt die Ergebnisse post­kolonialistischer Theorie allenfalls am Rande wahr­genommen habe. Wenn sie jedoch so ist, wie ich sie verstehe, dann muß dieses bürgerlich-aufklärerische Ideal brüchig erscheinen und bedarf dringend einer ideologie­kritischen Revision. Auschwitz war, und da wird mir der Autor wohl zustimmen, nicht der Zivilisations­bruch, als der er ritualisiert verhandelt wird. Auschwitz ist vielmehr eine (wenn auch nicht zwingende) Konsequenz der Durch­setzung europäisch-kapita­listischer Herrschaft und Wert­vorstellungen. Die sich im 18. Jahr­hundert entfaltende sogenannte Aufklärung mag universa­listisch erscheinen und sich auch als solche gesehen haben. Funktional betrachtet hingegen begleitete sie den Aufstieg des Bürgertums und der aufstrebenden Bourgeoisie, und zwar gegen den Absolutismus und gegen die gefährlichen subalternen Klassen; von den nichtweißen Indigenen der übrigen Welt ganz zu schweigen. Das Kapital selbst strebt nach Univer­salität, aber es inkludiert nicht alle Menschen und Milieus, ganz im Gegenteil; Exklusion und Ausrottung sind die Kehrseite. Raoul Peck, geboren auf Haiti, verweist zurecht darauf, daß es die Haitianerinnen und Haitianer waren, die den eurozentriert-weißen Anspruch auf Universa­lität mit ihrer eigenen (schwarzen) Revolution 1791/1804 durch­brachen; und die bis heute dafür büßen müssen.

Als sich Angela Merkel und Barack Obama beim Evangelischen Kirchentag im Mai 2017 über Ethik austauschten, war genau diese universa­listische Ethik gemeint. Sie geht einher mit Drohnen­krieg und Anbiederung an George W. Bush, mit Guantanamo, Kundus und ersaufenden Migrantinnen und Migranten im Mittelmeer. Daß ausgerechnet diese Beiden über Ethik parlierten, wurde nicht als Skandal aufgegriffen. Es wurde allenfalls ein bißchen mißfallend gemurmelt [13]. Mehr gibt es zu Israel und seinem Regime über die Westbank und Gaza dann auch nicht zu sagen. Zumindest dann nicht, wenn dieselbe Angela Merkel und der derzeitige Bundes­präsident Frank-Walter Steinmeier in Jerusalem den erwarteten Sermon abspulen. Vielleicht glauben sie sogar daran. Es ist aber nicht länger ein belastendes Schuld­gefühl, daß diese Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Politik bedrängt. Das ist der ideologische Mantel; das ist für uns. Die Realität ist viel banaler. Das Gerede von Schuld und Sühne ist nützlich, um sich gegenseitig mit Waffen und Überwachungs­technologie zu versorgen und sich ansonsten unver­brüchlicher Freundschaft in allen Lebenslagen zu versichern.

Arn Strohmeyer beendet sein Buch mit einer Anmerkung zu einem Buch von Samuel Salzborn. Dieser geht ebenfalls davon aus, wenn auch ganz anders begründet, daß die deutsche Erinnerungs­politik gescheitert sei. Das kann seiner Ansicht nach auch gar nicht anders sein, denn so gut wie alle Deutschen sind schuldig, auch die Enkelinnen und Enkel der Täter und Nicht­täterinnen. Das erinnert an ein wohl weit verbreitetes israelisch-jüdisches Narrativ, wonach alle Deutschen Nazis seien. Nun denn, wenn er meint …

Diffamierung

Es ist nicht allzu weit hergeholt zu behaupten, daß der Vorwurf des Anti­semitismus als persönliche wie politische Allzweck­waffe auch außerhalb des direkten israelisch-palästinen­sischen Zusammen­hangs genutzt wird. Das Lokalradio in Darmstadt, in dem ich jahrelang meine Sendungen habe ausstrahlen lassen, wollte mich und den Gründer des Trägervereins dieses Radios unbedingt loswerden. Als alles nicht half, griff der Verein und sein Vorstand zu einigen unschönen Verdäch­tigungen. Hiermit sollten wir bei der hessischen Landes­medienanstalt und in einem Zivil­verfahren diskreditiert werden. Dazu habe ich am 10. Januar 2011 eine eigene Radio­sendung gestaltet; das Sendemanuskript ist hier nachzulesen.

Eine mehr persönliche Begegnung mit einem in Theresien­stadt ermordeten jüdischen Ehepaar habe ich in meinem Artikel Stolpersteine in der Landwehrstraße beschrieben.

Eine emanzipatorische Erinnerungs­politik hat also noch viel aufzuarbeiten. Die Auseinander­setzung mit dem „Katechismus der Deutschen“ wäre hierbei ein wichtiger Baustein. Und so gesehen lohnt auch die Lektüre über die „falsche Loyalitäten“. Wem gegenüber sollten wir stattdessen loyal sein und warum?

Walter Kuhl
8. Oktober 2022