Koreanische Schrifttafeln.
Reflexionen über die Änderung der Welt
Walter Kuhl
Koreanische Schrifttafeln.
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Rezensionen / Buchbesprechungen

Manfred Spitzer : Selbstbestimmen

Eine wissenschafts­kritische Betrachtung

Buchcover.

Manfred Spitzer : Selbst­bestimmen, Spektrum Akademischer Verlag, Heidel­berg, 2003, 426 Seiten, € 32,99 als Softcover.

Prolog

Manfred Spitzer betrachtet in seinem Anfang 2004 im Spektrum Akademischer Verlag herausgekommenen Buch „Selbstbestimmen“ die Gehirn­forschung und die Frage: Was sollen wir tun? Beim Lesen dieses Buches bekam ich immer mehr den Eindruck, daß hier wissen­schaftliche Forschung mit unwissen­schaftlichen Hypothesen und Vorurteilen vermischt dargeboten wird. Dies hat mich unabhängig von meiner Buch­besprechung in meiner Sendung über Hirn­forschung in Darmstadts Lokalradio am 14. Juni 2004, dazu veranlaßt, das Buch mit seinen kritischen Passagen genauer darzustellen. [1]

Einleitung

Im ersten Kapitel behandelt Manfred Spitzer „Das Gehirn einer Terroristin“ – Ulrike Meinhof. Hierbei wandelt er unreflektiert auf den Spuren einer pathologisierenden Theorie, wonach „Terrorismus“ etwas Krankhaftes sein muß. Nun ist es zwar richtig, daß Ulrike Meinhof 1962 einer Gehirn­operation unterzogen wurde, daraus folgt jedoch nicht, daß ihr Leben und Verhalten in den Jahren danach durch die operativen Folgen (mit)bestimmt worden ist. Manfred Spitzers Quellen sind ohnehin beschränkt, da er sich auf das Buch von Alois Prinz „Lieber wütend als traurig“ und einen Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2002 bezieht. Alois Prinz jedoch bezieht seine Weisheiten wiederum aus den Beständen des BKA und der Bundes­anwaltschaft (vermittelt über Stefan Austs Machwerk Der Baader-Meinhof-Komplex), die ihrerseits schon Anfang der 70er Jahre ein gesteigertes Interesse daran hatten, Versuche der Überwindung der herrschenden Verhältnisse als wahnhaft, krank, zu denunzieren. Dabei zeigt sowohl die (weltweite!) Protest­bewegung gegen den Imperialismus wie auch die Studenten­bewegung in der Bundes­republik Deutschland, daß Ulrike Meinhof weder in der radikalen Infrage­stellung herrschender Verhältnisse noch in der Konsequenz ihres Handelns allein stand. [2]

Manfred Spitzer jedoch interessiert sich für den neuro­biologischen Aspekt der Veranstaltung, zieht daraus aber vollkommen aus der Luft gegriffene spekulative Schlüsse.

Da nicht sein kann, was nicht sein darf, wurde hierüber erst nach 26 Jahren öffentlich diskutiert, weil eine erneute Untersuchung des Gehirns von Ulrike Meinhof im Gange war. Nun jedoch wurde wieder nicht über Gehirn und Schuld, über damalige ideologische Blindheit und die Vertuschung naturwissen­schaftlicher Tatsachen geredet,

einmal ganz abgesehen von der unbewiesenen Behauptung eines Selbstmordes, [3]

sondern über die Aufbewahrung des Gehirns und die Umstände von dessen erneuter Erforschung. Statt die Klarheit zu begrüßen und zu prüfen, inwieweit es im Fall Ulrike Meinhof im Grunde um Krankheit ging und nicht um eine Auseinandersetzung um zu realisierende utopische Lebensentwürfe, wurde die Chance, aus dem Fall wirklich etwas zu lernen, vertan.

Was kann man nun daraus wiederum lernen? – Zunächst einmal machen die Ereignisse – leider – wieder einmal deutlich, wie sehr Ideologie und Macht der Vernunft im Wege stehen. „Wäre doch sehr peinlich, wenn sich herausstellte, dass alle diese Leute einer Verrückten nachgelaufen sind“, soll Peter Zeis, damals Oberstaats­anwalt bei der Bundes­anwaltschaft gesagt haben. Nun, es wäre keineswegs die einzige Peinlich­keit im Zusammen­hang mit Krankheit und Politik gewesen. Das mächtigste Land der Erde wurde vor kaum mehr als einem Jahrzehnt von einem Mann regiert, der an Alzheimer-Demenz litt und vor wichtigen Entscheidungen von seiner Frau beraten wurde, die als Hobby­astrologin die Sterne befragte. Mit den Entscheidungen mussten dann die Politiker weltweit zurechtkommen. [4]

Wenn Oberstaats­anwalt Peter Zeis über krankhafte politische Vorstellungen fabuliert, dann ist das sein Job als Bewahrer einer bürgerlichen Demokratie, die ihren Kumpels aus Amiland Start- und Landebahnen für einen mörderischen Krieg in Vietnam zur Verfügung gestellt hat, von den Grund­substanzen des chemischen Kampfstoffs Agent Orange einmal abgesehen. Peter Zeis ist also alles – nur kein unvorein­genommener Leumunds­zeuge für neuro­biologische Spekulationen.

Was Ronald Reagan angeht, so macht sich Manfred Spitzer vollkommen falsche Vorstellungen von der Bedeutung eines US-amerikanischen Präsidenten. Die tatsächliche Macht hatte nicht Reagan, sondern der schon von Präsident Eisenhower Ende der 50er Jahre so genannte Militärisch-Industrielle-Komplex. Wobei selbiger Komplex Ausdruck der politischen Herrschafts­form des US-amerikanischen Kapitals ist. Reagan war ebensowenig wie Bush heute [gemeint 2004] eine bloße Marionette. Im Gegenteil – an die Spitze des Staates gelangen die Männer, die Gewähr dafür bieten, die zugrunde liegenden Interessen zu repräsentieren. Die Wirtschafts­politik Reagans wie Bushs ist hierbei eindeutig. Wenn also ein US-Präsident unter Alzheimer leidet, ist das kein besorgnis­erregender Fall, sondern nur ein auf die Spitze getriebener Wahnsinn des Systems selbst. Aber auch ein Reagan hätte keinen Krieg ausgelöst, der nicht in den entscheidenden Macht­strukturen schon angelegt gewesen wäre. Osama bin Laden wurde allerdings in den Jahren Reagans massiv gefördert, wohl ohne das Wissen des Präsidenten, worauf es ja auch nicht ankam.

Teil I: Erfahren

Kinder quälen

Über die Rohheit wissenschaftlicher Untersuchungs­methoden geht Manfred Spitzer geradezu lässig hinweg – obwohl hier durchaus ein Skandal vorliegt. Man und frau fragt sich, aus welchen Brutkästen die im Folgenden genannten Kinder gerissen worden sind und wie sie ruhig gestellt wurden.

Um herauszufinden, wo genau im Gehirn Sprach­verarbeitung stattfindet und diese speziellen Fähigkeiten sitzen, untersuchten Dehaene-Lambertz und Mitarbeiter (2002) 20 Säuglinge im Alter von zwei bis drei Monaten mittels funktioneller Magnet­resonanz­tomografie (fMRT). Diese Technik der Bildgebung des Gehirns ist auch für Kinder völlig gefahrlos und wurde sogar schon bei Kindern im Mutterleib (Moore et al. 2001) eingesetzt. Die Untersuchung von Säuglingen ist allerdings keineswegs einfach, weil eine wesentliche Voraussetzung die ist, dass man still liegen muss. Wie die Autoren das Kunststück bewerkstelligt haben, Babies in den MR-Scanner – eine enge Röhre, die einigen Krach macht – zu legen und zu scannen, bleibt auch nach der Lektüre von deren Arbeit ein Geheimnis. Fest steht jedoch, dass sie es geschafft haben. [5]

Hat der Wissenschaftler Manfred Spitzer einmal nach den Traumata gefragt, die durch diese Rohheit ausgelöst werden könnten? Rechtfertigen diese eine Erkenntnis darüber, wo schon Kleinstkinder gehörte Sprache verarbeiten? Gibt es womöglich einen inneren Zusammen­hang zwischen Forschungs­methode und deren Ergebnissen? Offen­sichtlich sind Experimente mit wehrlosen Babies ganz besonders attraktiv. Ein anderes Forscherteam malträtierte 165 Säuglinge mit Japanisch und Holländisch, um herauszufinden, was so ein Säugling „versteht“:

Wie aber studiert man Sprache bei Neugeborenen und Affen experimentell? Man kann ja weder die einen noch die anderen fragen! Die Entwicklungs­psychologie der vergangenen Jahrzehnte hat jedoch gerade hier bedeutende Fortschritte gemacht. Es gibt daher mittler­weile tatsächlich Verfahren, mit denen man feststellen kann, was ein Säugling oder ein Tier „versteht“. Am bekanntesten ist das so genannte Habituierungs-Dishabituierungs-Experiment, das in der Säuglings­forschung wie folgt funktioniert:

Wann immer Babies an ihrem Schnuller heftig saugen, werden ihnen die Sätze vorgespielt und die Anzahl der heftigen Saugakte pro Minute gemessen. Wie seit längerer Zeit bekannt ist, verhalten sich Säuglinge anders beim Saugen, wenn eine Änderung in ihrem Erleben auftritt: Sie saugen heftiger. Änderung an sich, jegliches Neue, ist für sie interessant. Mit anderen Worten: Gehirne, und ganz besonders die von Säuglingen, lechzen nach Abwechslung; sie saugen – auch im übertragenen Sinn – bei jeglicher Neuigkeit.

Nun kann man die Argumentation umdrehen und das Saugen untersuchen, um festzustellen, ob ein Säugling eine Änderung, d.  h. etwas Neues, wahrnimmt. Man sorgt dafür, dass der Säugling zunächst das Gleiche erlebt, gibt also gleiche Reize für eine gewisse Zeit vor und wechselt dann den Input. Wenn sich jetzt das Saugen verstärkt, hat der Säugling die Änderung offen­sichtlich bemerkt.

Auf diese Weise wurde in einer Studie an 165 Säuglingen im Alter von nur wenigen Tagen nach­gewiesen, dass sie den Unterschied zwischen zwei Sprachen bemerkten: Wurden zunächst zehn holländische Sätze vorgespielt und dann zehn japanische, so nahm das Saugen nach dem Wechsel der Sprachen zu. Der unter­schiedliche Klang dieser Sprachen erlaubte es also den Säuglingen, diese zu unterscheiden.

Was eigentlich eine gewagte Behauptung ist. Wenn überhaupt etwas festzustellen ist, dann daß ein Rhythmus-Wechsel das Saugen verstärkt, aber nicht, daß zwei Sprachen unterschieden worden sind. Oder wurde das Experiment so fortgesetzt, daß den Babies Fetzen einer der beiden Sprachen vorgespielt wurden, damit sie dann per Knopfdruck entscheiden, ob das jetzt Holländisch oder Japanisch ist? Doch ich greife vor:

Der unterschiedliche Klang oder Rhythmus dieser Sprachen erlaubte es also den Säuglingen, diese zu unterscheiden. Um nun noch zu untersuchen, woran es denn genau lag – Klang oder Rhythmus –, ging man wie folgt vor: Man spielte die Sätze rückwärts ab. Dies lässt […] die Frequenzen (also den Klang) unbeeinflusst, ändert jedoch den zeitlichen Ablauf (also den Rhythmus). Die Säuglinge reagierten bei rückwärts abgespielter Sprache nicht mehr auf den Wechsel von Japanisch und Holländisch. Damit war gezeigt, dass sich ihre Unterscheidungs­fähigkeit der Sprachen auf deren Rhythmus und nicht auf deren Klang bezog (Ramus et al. 2000). [6]

Ist das so? Wenn ich Japanisch und Holländisch rückwärts abspiele, erhalte ich was? Eben – Klangbrei. Da dieser sinnlos ist, wird er auch nicht unterschieden, denn was soll sich ein Säuglings­gehirn mit Krach abgeben? Daraus folgt dann eben nicht, daß es auf den Rhythmus ankommt, sondern darauf, klar strukturierte Experimental­situationen zu schaffen, in denen Säuglinge gequält werden können. Oder Tamarin-Äffchen, welche sich dieselbe Prozedur reinziehen durften. Nochmal: eine Experimental­situation, in der zwei Sprachen unterschieden werden können, weil sie Sinn geben, ist etwas anderes als eine, in der Klangbrei hintereinander abgespielt wird. Daraus jedoch Schlüsse auf ein besonderes Wahrnehmungs­vermögen in Bezug auf Sprache zu ziehen, ist gewagt. Nicht einmal abschließend sei bemerkt, daß es keinen Hinweis darauf gibt, daß die soeben gequälten Kinder die ihnen vorgespielten Töne als Sprache wahrgenommen haben, gar als zwei Sprachen. Reagiert haben sie auf zwei Reize unterschiedlich akustischer Struktur. Mehr nicht. Da sei abschließend die Frage erlaubt, warum keine randomisierte Doppel­blindstudie vorgenommen worden ist. Vielleicht, um ein Ergebnis zu erhalten, das durch die Versuchs­anordnung schon gleichsam vorgegeben wurde?

Aufgebauschte Analogieschlüsse

Daß Hirnforschung mehr mit Analogie­schlüssen als mit wissen­schaftlich abgesicherten Ergebnissen arbeitet, mag folgende „Argumentation“ verdeutlichen:

Kleine Kinder sind wie Wissenschaftler, wie man anhand der beiden Fotos (links Ulla Spitzer im Jahr 1986 mit sechs Monaten; rechts Albert Einstein im Jahre 1951 mit 72 Jahren) unschwer erkennen kann. Wer nicht glaubt, dass Wissenschaftler große Kinder sind, der studiere deren Biografien oder unterhalte sich mit Menschen, die wissen­schaftlich arbeiten! Das Originalbild zeigt Einstein übrigens zwischen einem befreundeten Ehepaar sitzend. Er hatte von den Fotografen die Nase voll und streckte ihnen die Zunge heraus, als einer gerade knipste. Der übrigens in Ulm geborene Einstein hat dann das Foto, da es ihm sehr gut gefiel, so zurecht­geschnitten, dass nur noch er selbst zu sehen war. Dann ließ er sich davon mehrere Abzüge machen und verwendete das Bild selbst als Grußkarte […]. [7]

Der kleine unfertige Mensch ist mit einer Reihe von Funktionen ausgestattet, die es ihm besonders gut erlauben, seiner Neugierde nachzu­kommen. Eine ganz einfache dieser Fähigkeiten ist die zur Imitation. Streckt man einem 40 Minuten alten Säugling die Zunge heraus, dann macht er es nach – eine Beobachtung, die jede Mutter macht, die jedoch den Wissenschaftlern derartig unglaublich schien, dass ihr ein Artikel in der anerkannten Fachzeit­schrift Science gewidmet ist (Meltzoff & Moore 1977). [8]

Die Entwicklung eines Menschen vom Säuglingsalter bis nach der Pubertät ist kein geradlinig einfacher Vorgang (wie etwa das Größenwachstum des Körpers), sondern ein kompliziertes Geschehen, in das biologische Randbedingungen genauso eingehen wie kulturelle. Wichtig ist, dass dieser Vorgang kein passiver ist, sondern vom sich entwickelnden Menschen aktiv vorangetrieben und gestaltet wird. Schon der Säugling sucht nach neuen Reizen, giert nach Regeln, möchte seine Umwelt begreifen und möchte vor allem an ihr teilhaben und auf sie einwirken. Babies unterscheiden sich in dieser Hinsicht mit ihren aufgerissenen Augen und der frech herausgestreckten Zunge kaum von Wissenschaftlern, deren Job es ist, den Dingen um sie herum auf den Grund zu gehen und neugierig zu sein. [9]

Das, was Manfred Spitzer im zuletzt aufgeführten Zitat auf Seite 99 als Fazit bezeichnet, wird durch den voran gegangenen Text nicht belegt. Die frech heraus­gestreckte Zunge bei Albert Einstein war offen­sichtlich eine provokative Frust­reaktion, während sie bei Säuglingen als Imitations­verhalten dargestellt wurde. Daraus den Schluß zu ziehen, daß Kinder kleine Wissenschaftler sind und Wissenschaftler große Kinder [10], ist durch nichts belegt, außer eben durch eine willkürlich zusammen­gestoppelte Analogie. Wer nicht glaubt, daß Wissenschaftler große Kinder sind, deren Biographien studieren oder sich mit Menschen unterhalten soll, die wiederum Wissenschaftler kennen, bezeugt damit absolut nichts. Dasselbe sagt der Volksmund auch von Männern („das Kind im Manne“), ohne daß daraus ein wissen­schaftlich fundierter Schluß zu ziehen wäre. Würde Manfred Spitzer seinen eigenen Text als Diplomarbeit eingereicht bekommen, müßte er sie eigentlich wegen wissen­schaftlicher Abstrusität ablehnen. Aber als Buch verkauft sich derartiger Nonsense bestens!

Von Äpfeln und Birnen

In Kapitel 5 behandelt Manfred Spitzer den Zusammen­hang von Genetik und Umwelt. Zu welch kruden Gedankengängen dies führt, mögen die folgenden Beispiele zeigen:

Um es gleich an dieser Stelle klar zu sagen: Die Genetik liefert nicht den Plan, nach dem dann später das ganze Leben abläuft. Menschen sind aber ebensowenig bei der Geburt völlig eigen­schaftslos. Man kann dies nicht oft genug betonen, denn die Sichtweise, dass es sich bei Umwelt und genetischen Anlagen um zwei miteinander in Konkurrenz stehende Kräfte handelt, ist sehr tief in unseren Gedanken verwurzelt. Gerade weil dies so ist, wird in diesem Buch über das Selbst­bestimmen des Menschen ein ganzes Kapitel dafür verwendet, mit alten Vorurteilen aufzuräumen.

Es wird sich zeigen, dass wir nur durch unsere Gene (und nicht trotz unserer Gene) die Flexibilität besitzen, die es uns erlaubt, mit der Umwelt auf immer neue Weise kreativ zurecht­zukommen. [11]

Schauen wir also, wohin diese Vorbemerkung führt. Manfed Spitzer bringt ein hübsches Beispiel aus der Landwirtschaft:

Stellen wir uns einen Bauern vor, der dieser Frage [Anlage oder Umwelt?] auf den Grund geht: Er wählt einen Acker aus, der besonders gleichmäßen Boden hat, und sät unterschiedliche Weizensorten. Zur Erntezeit werden diese dann unterschiedlich groß sein und unterschiedlich viele Körner in den Ähren aufweisen. Damit steht fest: Es liegt an den Genen. Fragt man in dieser Untersuchung danach, wie groß der Anteil des Ackers und der der Gene an den beobachteten Unterschieden zwischen den Ähren ist, so lautet die Antwort: Gene 100%, Acker 0%.

Ein zweiter Bauer hat nur den Samen einer Weizensorte und sät ihn auf seine Felder aus. Diese liegen sehr unterschiedlich, haben unter­schiedliche Böden und werden unterschiedlich gut bewässert. Zur Erntezeit steht daher die Frucht auf manchen Feldern sehr gut, auf anderen wiederum jämmerlich. Stellt er nun die gleiche Frage wie sein Kollege, lautet die Antwort ganz anders: Bei ihm hing es nur vom Acker ab, von der Umgebung, auf die der Samen fiel, was aus ihm geworden ist. Seine Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet also: Acker 100%, Gene 0%.

Die Frage nach dem Anteil von Anlage und Umwelt lässt sich also in einer einzelnen Untersuchung beantworten, in der man die Unterschiede in der Ausprägung eines Merkmals bei vielen Organismen unter kontrollierten Bedingungen bestimmt. Wie die Verhältnisse jedoch ganz allgemein beim Weizen und bei Böden sind, d. h. zu wie viel Prozent die Umwelt und die Anlagen für ein bestimmten Merkmal verantwortlich sind, lässt sich gar nicht sagen. Es hängt immer davon ab. Dass diese Einsicht nicht nur für den Weizen auf dem Acker gilt, wird im Folgenden immer wieder deutlich werden. [12]

Ein gewisses Maß an Banalität ist nicht zu leugnen. Um den Gedanken klarer zu verdeutlichen. Wenn ein Bauer auf derselben Streuobst­wiese Äpfel und Birnen pflanzt, dann wird es logischer­weise genetisch vorbestimmt sein, ob die Früchte wie Äpfel schmecken. Wenn ein Bauer jedoch auf geeigneten und ungeeigneten Böden Apfelbäume pflanzt, dann werden die Gene ihm was husten und entweder Äpfel produzieren oder auch nicht. Daraus folgt jedoch nicht das, was er uns nun suggeriert – nämlich, daß diese Banalität umstandslos auf den Menschen zu übertragen sei. Diese Sorte Analogie­schluß ist einfach unstatthaft. Und damit komme ich zum ideologischen Weltbild des Manfred Spitzer. Er fährt nämlich im Text an der gerade verlassenen Stelle fort:

Leistung genetisch gedopt

Betrachten wir zunächst das Beispiel körperlicher Fitness.

Interessant, wie schnell auch sozial aufgeklärte Wissenschaftler bei Leistung und Fitneß landen! Als ob dies unhinter­fragbare Normen einer Gesellschaft seien. Dabei stellt sich doch schon im Anfangssatz der Argumentation die Frage, ob der Leistungs- und Fitneßgedanke ein Konstrukt ist, das etwas belegen soll, was menschliches Handeln nur in einer kapitalistischen Leistungs­gesellschaft bestimmt. Wenn dem jedoch so ist, was haben dann die Gene damit zu tun, daß Menschen sich derart fremd bestimmen lassen?

Ganz offensichtlich ist diese vor allem ein Resultat des Trainings: Wer viel trainiert, der ist kräftig, hat einen gut funktionierenden Kreislauf und wird plötzlichen körperlichen Belastungen viel besser gewachsen sein als ein völlig untrainierter Mensch. Wie schnell jemand rennt, wie hoch er springt oder wie weit sie wirft, ist also, so scheint es zumindest, vor allem eine Frage des Trainings.

Diese Sicht der Dinge ist korrekt, solange man die Gesamt­bevölkerung im Blick hat. Sie wird jedoch falsch, wenn man Hochleistungs­sportler betrachtet. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie alle maximal trainiert sind. Unter diesen Bedingungen werden genetische Unterschiede wichtig, die in der Variabilität der Bevölkerung im Hinblick auf körperliche Fitness untergehen. Bei Spitzen­sportlern sind die Unterschiede zwischen den Leistungen nur noch sehr gering und – da alle maximal trainieren – vor allem genetisch bedingt. [13]

Ist das so? Hat Manfred Spitzer alle Faktoren untersucht und bleiben nach Ausschluß aller unwichtigen Faktoren nur noch die Gene übrig? Werfen wir doch einen etwas genaueren Blick auf den Hochleistungs­sport. Dieser Sport wird bekanntlich nicht aus Gründen körperlicher Ertüchtigung betrieben. In einer kapitalistischen Gesellschaft ist auch Sport ein Erwerbszweig und vor allem ein multimediales Massen­spektakel, also ein Geschäft. Entsprechend fremd­bestimmt und finanziell motiviert werden Sportlerinnen und Sportler alles tun, um zu gewinnen oder sich zumindest ihr finanzielles Auskommen zu sichern. Dies schließt Doping selbst­verständlich mit ein. Unterschiedliche körperliche Leistungs­bereitschaft („Fitneß“) ist demnach in nicht unerheblichem Ausmaß durch chemische Stimulation bedingt. Diesen eminent wichtigen Faktor hat uns Manfred Spitzer in seiner Argumentation jedoch unter­schlagen. Es ist nicht der einzige.

Buchcover Nicht alle Helden tragen Gelb

Ich möchte hierzu aus dem Buch Nicht alle Helden tragen Gelb – Die Geschichte der Tour de France von Ralf Schröder und Hubert Dahlkamp (Verlag Die Werkstatt) zitieren, welches im Kapitel Doping – das trübe Thema der Tour den Zusammenhang von Hochleistungs­sport und Doping sehr klar herausstellt:

Seit der Leistungs­sport existiert, nutzen Athleten spezielle Präparate und Substanzen, um die eigene Wettbewerbs­fähigkeit zu verbessern. Der moderne, auf Rekord und Sieg orientierte Sport entstand mit der bürgerlichen Industrie­gesellschaft, und diese hat dem Sport zwei ihrer zentralen Prinzipien eingeprägt: Konkurrenz und Leistung. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte hat sich der Sport nicht nur immer weiter professionalisiert, sondern auch stetig an wirtschaft­licher und politischer Bedeutung gewonnen. In diesem Prozess wurden die Prinzipien der Leistung und der Konkurrenz gnadenlos zugespitzt, und irgendwann setzte sich die knallharte Devise durch: Sieger werden belohnt, Verlierer werden ignoriert. Angesichts dieser Entweder-Oder-Situation stieg für moderne Profis der Anreiz, für den Sieg bzw. für die erwünschte Leistung sprichwörtlich alles zu tun. Doping inklusive.

Bei der Tour de France war öffentlich erstmals 1924 von Doping die Rede. Nachdem er sich mit der Renn­leitung zerstritten hatte, stieg der französische Star Henri Pélissier in Begleitung seines Bruders Francis aus der Rundfahrt aus und erläuterte in einem Café des normannischen Städtchens Coutances einer Gruppe von Journalisten, dass die Fahrer zur Bewältigung der Schinderei u. a. Kokain, Chloroform und Pillen mit der Bezeichnung „Dynamit“ benutzten. „Gefährliches Zeug“ – das wusste bereits Pélissier. Mit am Tisch saß der Schriftsteller und Journalist Albert Londres aus Paris, der die Schilderung später in dem berühmten Artikel „Die Sklaven der Landstraße“ zusammengefaßt hat.

Ein ähnlicher Gedanke liegt der Bezeichnung „Tour der Leiden“ zugrunde; sie ist heute eine jener gerne und gedankenlos genutzten Reklame-Phrasen, die aus­schließlich das Verlangen des Publikums nach spektakulären Ereignissen ansprechen und auf diesem Weg Aufmerk­samkeit mobilisieren wollen. In dieser an die zuschauende Öffent­lichkeit adressierten Verheißung geht fast voll­ständig unter, dass die Tour ihren radelnden Akteuren tatsäch­lich immer schon ein ungeheures Maß an Anstrengung, Erschöpfung, Verschleiß und Verwundungen zumutete – und zwar nicht nur körperlich, sondern auch mental. Hierin übertraf und übertrifft die Frankreich-Rundfahrt die Anforderungen, die andere sportliche Groß­ereignisse an ihre Teilnehmer stellen.

Insofern verwundert es kaum, dass Fachleute aus Medizin, Sport und Medien immer wieder betont haben, ohne chemische oder pharmakologische Hilfe seien bei der Tour gute Ergebnisse kaum zu erzielen. […] Jean Pierre Mondenard, der in den siebziger Jahren die Tour als Rennarzt begleitete, sagte 1998 zu der Behauptung, 99 Prozent der Radprofis würden Dopingmittel benutzen: „Die Zahl scheint mir realistisch.“

[Der Doping-Definition des Europarates von 1963] liegt eine recht enge Vorstellung von sportlicher Chancen­gleichheit zugrunde, in deren Interesse sie u. a. verfasst wurde. Denn diese Gleichheit, die letztlich nur als Fiktion der traditionellen Sport­philosophie existiert, wird durch verschiedene Umstände regelmäßig verletzt: etwa durch die unveränder­baren körperlichen Unterschiede zwischen den Athleten, durch Unterschiede in der Betreuungs- und Trainings­infrastruktur oder durch Unterschiede in der Qualität der Sportgeräte. Zudem appelliert diese Definition an das weit verbreitete, aber völlig absurde Ideal eines natur­belassenen Körpers. Gleichzeitig enthalten Begriffe wie „körperfremd“, „abnormal“, „künstlich“ oder „unfair“ ein solches Maß an Unbe­stimmtheit, dass sie für ein ziel­gerichtetes Vorgehen gegen Doping durchweg untauglich sind. Allerdings trans­portieren diese Begriffe sehr wirksam die Idee, beim Doping handele es sich um eine Attacke auf das Natürliche, Ursprüngliche und Authentische, das im körperzentrierten Betrieb des modernen Hochleistungs­sports – angeblich – bewahrt sei.

1972 veröffentlichte das Internationale Olympische Komitee (IOC) erstmals eine Dopingliste – und damit wurde die bis heute übliche Praxis endgültig etabliert: Die Sport­verbände sagen den Sportlern ganz konkret, welche Mittel und Methoden verboten sind und führen Tests durch, um Verstöße gegen diese Regel festzu­stellen und zu ahnden. Diese Listen, die ständig aktualisiert werden, brachten so etwas wie Rechts­sicherheit in die Dopingfrage, und insofern waren sie ein echter Fortschritt. Ein Beispiel hierfür ist auch die Festlegung eines zulässigen Hämatokrit­wertes. Diese Größe, die durch EPO verbessert werden kann und Auskunft über die Fähigkeit des Blutes gibt, Sauerstoff zur Muskulatur zu tarns­portieren, liegt im Radsport bei 50 Prozent. Sieht man hier von strittigen Fragen bezüglich der EPO-Nachweis­verfahren ab, dann erhält die Festlegung implizit die Erlaubnis, sich an den Grenzwert heran­zudopen. Gleichzeitig aber setzten Verbotslisten einen Wettlauf in Gang, der die Absicht der Doping­bekämpfung paradoxer­weise permanent unterläuft: Während die Überwachungs­instanzen ständig nach verbesserten Nachweis­methoden forschen, befinden sich die Sportler und die Betreuer unablässig auf der Suche nach Substanzen und Methoden, die noch nicht von den Verbots­dekreten erfasst sind oder die Verstöße gegen die Regeln wirkungsvoll verdecken.

Die Verschärfung der Dopingfrage, die dann während der neunziger Jahre zu verzeichnen war, hat offen­sichtlich mit tief­greifenden Veränderungen in den Beziehungen zwischen dem Sport, den Medien und der Wirtschaft zu tun. Mit der Privatisierung des europäischen TV-Sektors nahm die Anzahl der Fernsehsender stark zu, und sportliche Groß­ereignisse wurden zunehmend zu einer Beinahe-Garantie für hohe Einschalt­quoten. Über direktes Sponsoring oder vermeittelt über die TV-Werbung flossen aus der Wirtschaft Geldsummen in einer neuen Größen­ordnung in den Hochleistungs­sport. Der ist aber im Wesentlichen deshalb populär und attraktiv, weil er mit positiv besetzten Werten wie Individualität, Dynamik, Jugendlich­keit, Askese, Fairness und Leistungs­willen verknüpft wird. Je stärker die – vermeintlichen – positiven Seiten des Sports akzentuiert wurden, dest schärfer musste sich die Offensive gegen Einflüsse gestalten, die den Sport entwerten könnten. In dieser Dynamik wird Doping mit Betrug, Manipulation und Wider­natürlichkeit identifiziert. Das heißt aber auch: Während in der gesamten Gesellschaft der Gebrauch chemischer und pharmako­logischer Präparate und medizinischer Technologien immer selbstver­ständlicher wird, soll der Sport als ein autonomes Sozialbiotop mit eigenem Werte­horizont erhalten bleiben; eine Anforderung, die sich auf Dauer als unhaltbar erweisen dürfte.

Berufssportler haben in der Regel maximal 10 bis 15 Jahre Zeit, sich durch Siege oder spektakuläre Leistungen jene Einkünfte und jene materielle Basis zu sichern, die ihnen eine Perspektive für die Lebensphase nach der aktiven Karriere bieten. Dass diese sachliche und zeitliche Dring­lichkeit des Erfolges viele Profis in eine Zwangslage manövriert, in der die Unter­stützung durch Dopingmittel sich beinahe aufdrängt, scheint wenig verwunderlich.

Unter diesen Bedingungen wird weiter gelten, was nach dem Tour-de-France-Skandal von 1998 im Spiegel stand: „Kein Profi fühlt sich betrogen, weil ein anderer Profi gedopt ist. Die Sorge gilt nur dem eigenen Weg zur Bestform: Habe ich alles gedrückt, geschluckt, getrunken, was gut, teuer und verboten ist? Hätte es ein bisschen mehr sein sollen?“ [14]

Damit wird deutlich, daß Manfred Spitzer den wahren Charakter des Hochleistungs­sports überhaupt nicht erfaßt hat und deshalb zu falschen Ergebnissen kommt. Wissen­schaftliches Vorgehen beinhaltet jedoch, alle relevanten Faktoren zu untersuchen und erst dann zu entscheiden, welche dieser Faktoren wichtig sind und welche nicht. Beim Hochleistungs­sport ist es eben nicht so, wie Manfred Spitzer ausführt, daß die Unterschiede zwischen den Leistungen gering sind. Sie sind vielleicht minimal im Vergleich zu unserer eigenen Leistungs­fähigkeit. Ob ein Radprofi drei Minuten mehr oder weniger benötigt, um nach Alpe d'Huez hochzuradeln, mag für uns irrelevant sein, da wir vielleicht eine halbe Stunde länger oder noch mehr benötigen würden. Bei den Profis bedeuten diese drei Minuten Unterschiede Welten. Hier kommt es vor allem auf das Material, auf die finanziellen Ressourcen, auf Trainings­methoden, auf die mentale Einstimmung, das Umfeld und eben auf die chemischen Kampfstoffe an. Gene spielen hierbei keine Rolle. Oder sind Gene daran Schuld, das Brasilien und nicht Deutschland Fußball-Weltmeister 2002 wurde, oder warum im Alpinen Skisport keine AthletInnen aus Uganda teilnehmen?

Aber Manfred Spitzer unterschlägt noch ein anderes Moment, nämlich die gesellschaft­lichen Rand­bedingungen. Nur eine so absurde Gesellschaft wie der Kapitalismus kann leistungs­fetischisierende Sport­veranstaltungen hervorbringen, für die der Mensch evolutionär überhaupt nicht entwickelt ist. Den Menschen also an etwas zu messen, was er gar nicht leisten kann, ist nur das Spiegelbild dieser Absurdität. Dafür dann auch noch Gene heranzu­ziehen, belegt diesen Nonsense.

Radikalisierte Intelligenz

Zwillingsstudien zum Einfluss von Genetik und Umwelt auf die verschiedensten Merkmale wurden in den vergangenen beiden Jahrzehnten sehr bekannt. In diesen Studien zeigte sich immer wieder der Einfluss genetischer Faktoren auf die Ausprägung der unter­schiedlichsten Merkmale. Wonach auch immer man schaut, Körper­größe, Gewicht, Intelligenz, Blutdruck oder rechts­radikale Gesinnung: Man findet einen Anteil der Genetik an der Variabilität des Merkmals von 30 bis 60 Prozent.

Das soll mir mal jemand/eine erklären, wie er/sie den genetischen Anteil am Merkmals „rechtsradikal“ berechnet!

Schaut man genauer hin, so ist es nicht der Inhalt, sondern die Form, die deutlich auf eine Anlage zurückgeht: Was einer gerne isst, hängt von seiner Kinderstube und den Gewohnheiten in der Familie ab,

oder davon, was die Finanzen so hergeben,

sein Körpergewicht hingegen ist stark genetisch bestimmt.

Und ich dachte, das liegt daran, wie schlecht wir uns ernähren, wie wenig oder viel wir uns bewegen, wieviel Zeit wir mit ungesunder Körper­haltung beim Arbeiten verbringen und ob wir in München oder in Mumbai leben, ob wir arm oder reich sind. Kann man mal wieder sehen, was Gene so alles anrichten können, ohne daß wir es ahnen.

Das heißt, nebenbei noch einmal angemerkt, nicht, dass er keine Diät zu machen braucht, wenn er abnehmen will: es heißt nur, dass die messbaren Unterschiede in der Bevölkerung im Hinblick auf das Körpergewicht eher durch Unterschiede in den Genen als durch Unterschiede des familiären Hintergrunds bedingt sind.

Ach, so ist das! Wenn ich die Wahl zwischen Genen und Familie habe, sind es die Gene. Wenn ich (willkür­lich gesetzt) nur zwischen A und B wählen kann, dann ist klar, daß C keine Bedeutung hat.

Welcher politischen Gesinnung einer angehört oder welcher Religion, ist ebenfalls eine Frage seiner Umgebung in Kindheit und Jugend. Ob er jedoch seine politische bzw. religiöse Gesinnung radikal verfolgt oder nicht, hängt eher von den genetischen Anlagen ab. [15]

Das würde mich schon einmal interssieren, welches Gen die Evolution für das Merkmal „Radikalität“ hervor­gebracht hat. Vielleicht kann mir Manfred Spitzer einmal verraten, welches Gen denn für meine politische Gesinnung verant­wortlich ist. Ich wette, er kann es nicht. Und damit ist das ganze Argument wertlos. Gene für soziales Verhalten verant­wortlich zu machen, ist einfach absurd. Sozialverhalten entsteht aufgrund gesell­schaftlicher und individueller Bedürfnisse und damit verbundener gesell­schaftlicher Normsetzung; und erst auf dieser Grundlage kann Sozial­verhalten auch bewertet werden. Was als radikal gilt, ist also eine gesell­schaftliche Setzung. Woher sollen dann die Gene davon wissen?

Doch Manfred Spitzer fährt damit fort, den Gedanken zu Ende zu spinnen. Er wird dadurch nicht besser. Wenn er jetzt auch noch Intelligenz­quotienten einführt, beweist er nur die unwissen­schaftliche Methodik seiner Argumentation. Was bitte sehr wird denn bei IQ-Tests gemessen? Intelligenz? Was ist das? Was zum Anfassen oder ein Konstrukt? Wissen wir nicht aus eigener Erfahrung und entsprechenden Ratgebern, daß jeder dieser Tests mit entsprechender Vorbereitung zu anderen Ergebnissen führen muß als ohne Vorbereitung? Was wird also gemessen? Unsere Fähigkeit, ausgedachte Fragebögen möglichst sinnvoll zu beantworten? Und nach welchen Werten wird hierbei vorgegangen? Geht es hier um Gehirn­akrobatik, um Sozial­verhalten, um intelligente Anpassung an gesell­schaftliche Herrschafts­verhältnisse oder gar darum, wie der Kapitalismus beseitigt werden kann? Eben. Und damit beweist ein IQ-Test nur, wie gut sich Menschen im Rahmen vorgefertigter, von kapitalistischen Werten und Normen durch­tränkten Frage­stellungen behaupten können. Was dies mit Genen oder Neuronen zu tun hat, weiß wohl nur der Autor folgender Zeilen:

Bei der Intelligenz liegen die Dinge vielleicht am deutlichsten: Der IQ ist zu 50% genetisch bedingt, wie Zwillings­studien gezeigt haben. Dies lässt jedoch einen erheblichen Einfluss der Umgebung zu, und dieser wiederum hängt davon ab, welche Gruppe man betrachtet. Wächst man unter ungünstigen Umständen auf, dann besteht eine nicht geringe Chance, schlecht gefördert zu werden oder vielleicht sogar an Mangel­ernährung, zu viel Blei im Trinkwasser, zu wenig Vitaminen etc. zu leiden. Daraus ergibt sich unmittelbar, dass der IQ von Kindern aus niedrigen sozio­ökonomischen Schichten vor allem durch die Umwelt geprägt ist. Kommt man dagegen aus der Mittelschicht, dann ist der IQ vor allem von den Genen der Eltern abhängig. Man kann sich dies wie folgt erklären: Sind einmal die wesentlichen Voraussetzungen für die Entwicklung gegeben, so macht es kaum einen Unterschied, ob man die richtige Dosis an Vitamin C zu sich nimmt oder die doppelte Dosis. Es herrscht kein Mangel, und damit ist die Umgebung nicht mehr so wichtig.

Hieraus ergibt sich im Grunde unmittelbar, dass soziales Engagement sich vor allem dort lohnt, wo es am meisten gebraucht wird: bei den ganz Armen. [16]

Klingt plausibel, ist aber falsch. Stellen wir uns den neugeborenen Menschen als ein Wesen vor, das im Grunde genommen offen ist für äußerliche Einflüsse, dann hängt die Entwicklung von genau diesen Einflüssen ab. Ein Kind, das in Elternhäusern mit „hoher Intelligenz“ aufwächst, wird in der Regel auch materiell besser gestellt sein, also mehr Möglich­keiten besitzen, sich zu entfalten. Wenn hierzu noch ein gewisses eltern­häusliches Bildungs­niveau kommt („Mittelschicht“, was ja nur ein anderer Ausdruck für die hierarchische Sozialstruktur einer Klassen­gesellschaft ist), dann wird das Gehirn dieses Kindes von der Geburt an ganz anders strukturiert, als dies bei Kindern der Fall ist, bei denen dies Eltern oder andere Bezugs­personen nicht leisten können. Manfred Spitzer hebt ja durchaus darauf ab, daß die Hirn­forschung zeige, wie Strukturen im Gehirn entstehen und vor allem wie sie durch permanentes Lernen und Wiederholen „formatiert“ werden. Wenn also kein Mangel herrscht, dann ist die Struktur meist schon vorgegeben. Wo aber dieser Mangel an Strukturierung herrscht, ist es umso wichtiger, es wenigstens nach­träglich allen Kindern zu ermöglichen, diesen „Mangel“ auszugleichen.

Der Philanthrop Manfred Spitzer unterschlägt jedoch wie alle Philantropen das Grundproblem: nämlich die gesell­schaftlichen Grund­bedingungen einer kapitalistischen Ökonomie, die es ja geradezu verhindert, daß Kinder von Anfang an all das bekommen, was sie benötigen, um in einer kapitalistischen Wahnwelt zu überleben und dort Sinn zu erfahren. Das Problem sind nicht die Gene, sondern die absurden Anforderungen einer Entfremdung produzierenden Gesellschaft. Und „Intelligenz“ mit Vitamin C zu vergleichen, ist genauso sinnvoll, wie Leistungs­sportler an Birnen zu messen.

Buchcover Psychoanalyse und gesellschaftliche Widersprüche

Der Psychoanalytiker Klaus Horn, der wie nur wenige die Psychoanalyse radikal politisch verstanden hat, kommt in seiner Fragestellung Gibt es einen Aggressions­trieb? auf die zweite Natur des Menschen zu sprechen:

Im Sinne der diskutierten anthropologischen Voraussetzungen müssen wir den Menschen als ein Lebewesen betrachten, dessen erste Natur – und darunter fällt auch seine Trieb­ausstattung – uns stets nur in Gestalt „zweiter Natur“ zugänglich ist, d. h. in der jeweils vorliegenden gesell­schaftlichen – durch die Sozialisation und ihre gesell­schaftlichen Prinzipien – vermittelten Formen des Verhaltens. Im Verhalten stecken also zwei Momente, die sich beim Menschen nicht trennen lassen: Zum einen sein phylo­genetisches Erbe im Sinne naturwissen­schaftlicher Betrachtung; zum anderen die Resultate seiner ihn vom Tier unter­scheidenden Fähigkeit, diese innere Natur und die äußere Natur sich vermittels realer und symbolischer Arbeit anzueignen. […]

Wir sehen also, daß die Erörterung der Frage, ob es einen Aggressions­trieb gibt, eine Bedeutung gewinnt, die über den Rahmen dieser Problem­stellung hinausgeht. Sie hat mit der Vorstellung darüber zu tun, was der Mensch ist. Wenn wir den Menschen als Lebewesen betrachten, das wesentlich nur von seiner Heteronomie erster Natur beherrscht wird, so sorgt der hermeneutische Zirkel dafür, daß es bei dieser Heteronomie im Prinzip auch bleibt; wählen wir hingegen eine Heteronomie zweiter Natur als Ausgangs­punkt, kann das Moment des Gemachten, was dann darin steckt, im Prinzip auch besser gemacht werden.

Daß wir immer nur „zweite Natur“ vor Augen haben, trifft auch auf aggressives Verhalten zu: Diese kann nicht nur die unvermittelte Kraft eines spezifischen Aggressions­triebes zugrunde liegen, sondern auch bei aggressivem Verhalten müssen wir von der gesell­schaftlichen Vermittlung ausgehen – in der Psycho­analyse würde man sagen: nicht vom Trieb, sondern vom Trieb­schicksal, das in der analytischen Situation zu analysieren ist. […]

So verfährt man ganz im Sinne der sozial­wissenschaftlichen Kritik und findet auch die Unterstützung biologischer Anthro­pologie. Mitscherlich (1963, S. 69 ff.) hat im Anschluß an Julian Huxley darauf hingewiesen, daß nach dem evolutionären Übergang von der anorganischen Phase zur biologischen mit dem Menschen eine weitere, die psychosoziale Stufe der Evolution erreicht wurde. Auf dieser Stufe muß davon ausgegangen werden, daß das Konzept der Verhaltens­steuerung durch Vererbung, welches für die biologische Phase zureichend war, aufgrund der Forschungs­ergebnisse abgelöst werden muß durch das Konzept sozio- und psycho­genetischer Verhaltens­lenkung. Gesetz­mäßigkeiten der dritten Stufe, der psychosozialen, lassen sich nicht auf solche der zweiten evolutorischen Stufe reduzieren. Für die Medizin hat ja Freud in den „Studien über Hysterie“ den entscheidenden Schritt von den Erklärungs­mustern zweiter zu denen der dritten Stufe getan. Krankheit ist seitdem vermittels einer systematischen Tiefen­hermeneutik als Resultat konflikthafter menschlicher Beziehungen analysierbar; man weiß daß verdrängte Sinn­zusammenhänge aus dem infantilen Erleben die Lebenspraxis des Erwachsenen mitbestimmen. Verdrängte (oder unterentwickelte) Sinn­zusammenhänge sind aber verdinglichte Formen des Trieb­schicksals; der „Drang“ des Triebes (Freud) geht nur als ein Moment in sie ein und ist in blinder Dynamik darin gefangen. [17]

Von Natur aus sind die Menschen weder gut noch böse. Die Lebensnot, die dem Psycho­analytiker in erster Linie als Gebunden­sein an die Leiblichkeit erscheint, schränkt aber ihre „Freiheit“ ein; Interaktion, Symbolbildung, Arbeit und Interesse sind immer miteinander, allerdings höchst unter­schiedlich, verknüpft. Dennoch können Menschen werden, was sie aus sich zu machen vermögen. Dieser Weg ist theoretisch und praktisch nur denkbar als Kritik und Arbeit an erster und zweiter Natur zugleich. [18]

Tolerante Affenmütter

Kommen wir wieder von den Äpfeln zu den Birnen. Um menschliches Verhalten zu verstehen, verlegt sich die Soziobiologie gerne auf unsere nächsten Verwandten. An ihnen sollen uralte evolutionäre Muster belegt werden, die im nächsten Schritt wieder beim Menschen gesucht und – welch Wunder! – auch gefunden werden. Daß es sich hier eher um einen Zirkelschluß als um Wissenschaft handelt, wird dann deutlich, wenn die nebenbei einfließenden Bewertungen kritisch hinterfragt werden. Im folgenden Beispiel geht es um Toleranz, böses Verhalten und Aggression. Von Menschen auf das (gewertete!) Verhalten von Affen zu schließen, um daraus Schlüsse auf menschliches Verhalten zu ziehen, beweist nur eins: Menschen sind Menschen sind Menschen. Aber das wußten wir eigentlich schon vorher.

Affenmütter wiederum unterscheiden sich ebenfalls genetisch im Hinblick auf ihre Toleranz gegenüber widrigem Verhalten. Manche lassen einfach alles mit sich machen, wohingegen andere dies nicht tun und böse Affenkinder einfach wegschubsen. […]

Treffen aggressive Affenbabies hingegen auf tolerante Mütter, kommen sie durch. Da diese Tiere aufgrund ihrer Aggressivität jedoch durch­setzungsfähiger sind als andere Tiere, steigen sie in der sozialen Hierachie auf und haben gute Chancen, die Rolle des Alpha-Männchens in der Horde der nächsten Generation zu übernehmen. Alpha-Männchen sind jedoch nicht nur durch ihre Stellung in der „Hackordnung“ der Gruppe definiert, sondern vor allem dadurch, dass sie die meisten Nachkommen haben. Trifft das aggressive Affenbaby also auf eine nachsichtige Mutter, so überlebt es nicht nur, sondern gibt seine Gene (die u.a. für Aggressivität sorgen) auch am effektivsten an die Nachkommen weiter. Betrachtet man nur die aggressiven Affenbabies, so liegt deren Schicksal demnach ganz an der Mutter: Sie entscheidet über Leben und Tod und damit über die Wahrschein­lichkeit der aggressiven Gene in der Nach­kommenschaft, die entweder gleich Null ist (beim Tod des Tieres) oder maximal (wenn das Tier zum Alpha-Tier wird). [19]

Cover der Zeitschrift

Zu diesem eindimensionalen (und falschen) Weltbild schrieb Elke Ostbomk-Fischer 1996 in der Zeitschrift beiträge zur feministischen theorie und praxis:

Welchem Zweck dient solche Forschung? […]

In einer kritischen Analyse der Anthropo­logischen Forschungsmethodik und deren Publikationen untersucht die Anthropologin Gerda Weiler, daß die Autoren ihre gesamte Aufmerk­samkeit dem aggressiven Männchen widmen (vgl. Weiler 1993). Voyeuristisch in der Szenenwahl und sensations­lüstern in der Sprache greifen sie aus dem viel­schichtigen Sozial­verhalten der Primaten gerade nur die Sequenzen heraus, welche die Aggressivität und Dominanz des Affen­männchens illustrieren. Wie gebannt starren die männlichen Forscher auf den Affenmann, und sie projizieren auf ihn ihre mann-menschlichen Wünsche vom Haremshalter.

Anderslautende Forschungs­ergebnisse werden ignoriert. Sprache und Deutung verraten, in welche Richtung ihr Erkenntnis­interesse geht. Weniger aggressive Tier­populationen werden nicht untersucht. Keine Beachtung findet das ungemein interessante Sozial­verhalten der Weibchen­gruppen, die jeweils nur ein Männchen benötigen. Und das wird spätestens nach 26 Monaten durch ein jüngeres, attraktiveres ausgewechselt. Das haben die Wissenschaftler in vielen Jahren ihrer Forschung nicht bemerkt. Und wer das beschreibt, wie z. B. Jane Goodall (vgl. Goodall 1971), wird zur Strafe nicht zitiert.

Ist schon die Auswahl der Forschungs­inhalte auffällig einseitig, so ist es erst recht die bedenkenlose Übertragung von tierischen Verhaltens­weisen auf den Menschen. Vergleiche avancieren zur Gleichheit. Jahrzehnte­lange sozialwissen­schaftliche Forschung über den Erwerb von weiblichen und männlichen Rollen­stereotypen verleugnen die Forscher (vgl. Hagemann-White 1984).

Welchen Beitrag soll Forschung für die Lösung menschlicher und gesell­schaftlicher Probleme leisten? Welche Fragen stellen sich für uns Menschen? Ist es eine entscheidende Grundfrage unseres Zusammen­lebens, ob einige Affen auch so handeln, oder suchen wir nach Antworten, wie alle Menschen auf diesem Planeten – eben auch Frauen und Männer, Menschen aller Hautfarben, Menschen mit und ohnr Behinderung – in Würde und Selbstachtung miteinander leben und für ihr Handeln Verantwortung tragen können? [20]

Das kriminelle Gen

Manfred Spitzers Gedanken­akrobatik führt geradezu zwangsläufig zum Abnudeln der abgedroschenen Behauptung der genetischen Bestimmung kriminellen Verhaltens. Natürlich gibt es hierzu die passenden Studien; nur – sie machen die Behauptung nicht wahrer. Denn ob nun ein Defekt der Monoamino­oxidase A vorliegt, ein Enzym, das unter anderem Serotonin abbaut, ändert nichts an der Tatsache, daß kriminelles Verhalten einer gesell­schaftlichen Definition unterliegt, von der die Gene nichts wissen können. Dabei ist es unerheblich, ob es um Tötungs­delikte, Vermögens­delikte, ordinären Laden­diebstahl oder um bewußte Verstöße gegen die Straßen­verkehrsordnung geht. Interessant wird das Argument der kriminellen Erbver­anlagung dann, wenn deren Ideologen uns erklären müssen, weshalb dasselbe Verhalten in Krieg und Frieden mal kriminell ist und mal sogar erwünscht ist – und was die Gene damit zu tun haben sollen.

Zum einen ist Kindes­misshandlung als Risikofaktor für spätere Kriminalität bekannt, zum anderen jedoch wird nicht jedes misshandelte Kind später kriminell. Es scheint also auch eine genetische Veranlagung für kriminelles Verhalten zu geben. [21]

Es scheint … – Sicher, es scheint so, wenn man systematisch gesell­schaftliche Bedingungen außer acht läßt, die Kinder dazu motivieren oder davon abhalten, kriminell zu werden, was immer die Gesellschaft für kriminell hält. Dazu gehören Schule, Strafen, Drill, Militär, Erziehung, Verbote, Verlockungen, Geldbesitz, Armut, Perspektiv­losigkeit usw. – ganz zu schweigen davon, daß ja die ganze Gesellschaft auf Gewalt und Betrug aufgebaut ist. Unter diesen Voraus­setzungen treffsicher auf die Gene zu schließen, scheint nicht nur unwissen­schaftlich zu sein, sondern ist es auch. Kein Wunder, daß ein derartiger ideologischer Unfug in einer kapitalistischen Leistungs­gesellschaft für eine Professur qualifiziert. Doch um nicht ungerecht zu sein, halte ich Manfred Spitzer die Worte von Hans Günter Gassen und Sabine Minol entgegen:

In einer anderen Studie untersuchte eine holländische Arbeitsgruppe durch Gewalt auffällig gewordene Insassen von Straf­anstalten auf das Vorkommen einer genetischen Veränderung im Gen für das Enzym Monoamin­oxidase A. Das Enzym baut die angestauten Neuro­transmitter Noradrenalin und Adrenalin ab und mindert so die Aggressivität von Personen. Die Ergebnisse dieser Studie unterstützten den Zusammenhang zwischen Gen­veränderung und Gewalt­bereitschaft […]. Da es jedoch Personen gibt, denen dieses Gen fehlt, ohne dass sie zu Gewalttätern werden, sind die Schlüsse, die aus den Daten gezogen werden, mehr als fraglich. [22]

Depressive Verdrängung

Seit langem geht man in der Forschung der Frage nach, ob und wie sich wichtige Lebens­ereignisse auf den Beginn und den Verlauf von Krankheiten auswirken. Insbesondere in der Psychiatrie liegen Bedrohung oder Erniedrigung durch andere einerseits und der Entwicklung einer Depression andererseits nahe (Kendler et al. 1999). Dennoch ist es nicht leicht, derartige Zusammen­hänge im Einzelnen nachzu­weisen. Mehr als zwei Jahrzehnte Life-event-Forschung (wie man diesen Zweig der Wissenschaft auf Neudeutsch nennt) ergaben wenig konkrete Fakten.

Und Manfred Spitzer wäre klug beraten, es damit auch bewenden zu lassen, anstatt voreilige Schlüsse aus seiner Unwissen­heit zu ziehen. Doch er fährt fort:

Den einen wirft ein vergleichs­weise kleines Lebens­ereignis aus der Bahn, wohingegen der andere eher ein Steh­aufmännchen und auch durch mehrere widrigste Ereignisse nicht unterzu­kriegen ist. [23]

Und nachdem er den wenig konkreten Fakten nachge­gangen ist, folgert er:

Fasst man die Daten nochmals anders zusammen, ergibt sich wiederum ein klares Bild der Wechsel­wirkung von Anlage und Umwelt bei der Verursachung einer Depression.  […]

Es zeigt sich sehr deutlich, wie Menschen mit l/l-Allelen praktisch durch nichts aus der Bahn geworfen werden: weder durch Miss­handlung in der Kindheit noch durch Stressoren im späteren Leben als Erwachsene. Diese Menschen scheinen sich durch eine besondere Robustheit auszu­zeichnen, es sind regelrechte Steh­aufmännchen. Anders ergeht es den Menschen mit mindestens einem s-Allel: Sie sind verletzlich, anfällig für die Widrigkeiten des Lebens. [24]

Bei soviel Schein scheint es mir dann doch sinnvoll zu fragen, wie das Ergebnis nach einer psycho­analytischen Therapie der Befragten ausgesehen hätte. Wenn ich mir die Logik der Studien oder der Argumentation Spitzers zu eigen machen würde, könnte ich ja auf die Idee kommen, daß die Gene dafür zuständig sind, Schicksals­schläge besonders gut zu verdrängen oder zu verleugnen. Also beweisen weder die Studien noch die Ausführungen von Manfred Spitzer irgendetwas, außer das, was damit bewiesen werden sollte.

Arbeitsbeschaffungs­maßnahmen

Worauf der Mediziner, Wissenschaftler und Philosoph Manfred Spitzer wirklich hinaus will, wird aus folgender Passage deutlich. Er unterstützt die von kapitalistischen Motiven gespeiste Tendenz, den Genpool der Bevölkerung zu erfassen und ihn zu profitabel wie sicherheits­politisch zu verwerten. Natürlich ganz im luftleer-herrschafts­freien Raum, wie sich das für einen gestandenen Wissenschaftler gehört, der nur seiner Wissenschaft und nicht seinen Geldgebern gegenüber verpflichtet ist.

Welche Gesellschaft soll es sein?

Nehmen wir an, die diskutierten Ergebnisse halten Wiederholungs­studien stand und werden durch weitere Studien ergänzt.

Da bin ich ja mal schwer gespannt, wie das gehen soll. Aber nehmen wir einfach mal an …

In Anlehnung an den Rechtsphilosophen John Rawls (1971) kann man dann fragen, in welcher Gesellschaft man denn lieber leben würde: In einer, die auf jegliche genetische Unter­suchungen (Screening) bewusst verzichtet und die Anlagen einer Person als den Ausgang eines Würfel­spiels betrachtet (bei dem es ja auch zu den Spielregeln gehört, dass man nicht mehrfach würfelt, bis der Wurf passt, oder an den Würfeln herum­manipuliert)? Oder würden Sie lieber in einer Gesellschaft leben, in der jeder seine genetischen Anlagen und damit seine Risiken und Stärken kennt?

Was ist denn das für eine Alternative? Tertium non datur? Also, ich möchte lieber in einer Gesellschaft leben, welche die Menschen respektiert, so wie sie sind, und welche diesen Menschen die Möglich­keit an die Hand gibt, sich selbst verantwortungs­bewußt und nicht­entfremdet zu verwirklichen. Bei der es egal ist, was die Gene sagen oder auch nicht. In der Geld keine Rolle spielt und eine optimale Gesundheits­versorgung für alle Menschen des Planeten selbstver­ständlich ist. Und in der „Behinderung“ kein Hinderungs­grund für gar nichts ist. Utopisch? Wieso? Weil uns die Gene sagen, daß der Kapitalismus zwar schlecht ist, aber immer noch besser als … – ja, als was denn? Doch Manfred Spitzer will uns durch seine suggestive Frage­stellung dazu verführen, ganz selbst­bestimmt (weil im Kapitalismus selbst die blödeste Entfremdung immer noch als Chance auf Selbst­bestimmung gilt) der genfixierten Ideologie aufzusitzen.

Aus der Sicht desjenigen, der sein Schicksal selbst bestimmen will, ist die Antwort klar: Er wird wissen wollen, wie bei ihm die Würfel gefallen sind, um sich entsprechend dem Wurf optimal zu verhalten.

Klar: kapitalistische Leistungs­logik. Die Fremd­bestimmung auch noch herbeisehnen. Als wenn das Leben ein Würfelspiel wäre! Wie wäre es denn, einfach mal so zu denken: die Gene sind keine Würfel unseres Schicksals. Aber dann würden dem Herrn Professor ja die Argumente ausgehen.

Schon die Eltern eines Kindes (insbesondere dann, wenn sie nur eines oder zwei Kinder haben) werden wissen wollen, was ihrem Kind gut tut und was man unbedingt vermeiden soll.

Kapitalistisches Leistungs- und Warendenken ist unbedingt zu vermeiden. Zu dieser Erkenntnis benötige ich jedoch kein Gen-Screening, sondern nur ein bißchen Hirnschmalz.

Bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen verfährt man längst so, und für den medizinischen Laien macht es kaum einen Unterschied, ob ein Erkrankungs­risiko durch die Analyse der Blutfette, des Blutzuckers oder des Blutdrucks einerseits oder die Analyse bestimmter Gene andererseits festgestellt wird.

Angesichts der oben benannten wissenschaft­lichen Ungenauigkeit der Gen-Behauptungen denke ich schon, daß dies einen nicht gerade geringen Unterschied macht.

Eines ist klar: Wir neigen dazu, unser Schicksal in die Hand zu nehmen, wann immer wir die Gelegen­heit dazu haben. Mit hoher Wahrschein­lichkeit scheint zudem Folgendes zuzutreffen: Überlassen wir die Frage nach genetischem Screening nationalen Regierungen und dem Markt (d. h. wenn sich die politischen Entscheidungs­strukturen in den kommenden Jahren nicht wesentlich ändern), dann wird sich die kosten­günstigere Alternative langfristig automatisch durchsetzen. Ob diese in jedem Fall dem Menschen eher entspricht, sei dahingestellt.

Kapitalismus entspricht nicht dem Menschen, sondern dem Profit. Also sei es auch nicht dahin­gestellt. Was für ein pseudo­objektiver Blödsinn, der aber nicht verwunderlich ist, wenn man selbst Teil des Problems ist.

Daher ist ein Weiteres klar: Wir sollten über diese Fragen ernsthaft nachdenken und können es uns nicht leisten, auf Profes­sionalität auch in diesem Bereich der Wissenschaft zu verzichten.

Sehr professionell scheint mir das Ganze aber jetzt schon nicht zu sein, denn sonst käme der Autor nicht auf so absurde Gedanken.

Vielleicht sollten wir einige der 50.000 neuen Lehrstühle, die der Boom der Genetik mit sich bringt, mit Philosophen besetzen. [25]

Und was sollen sie da tun? Mahnen? Lieber Kapitalismus, sei doch bitte nicht so furchtbar böse! Oder was? Wes' Geld ich nehm, des' Lied ich doch sing, oder?

Nach diesem ersten Teil des Buches Selbstbestimmen war ich nahe daran, ganz selbstbestimmt das Buch in die Ecke zu werfen. Aber dann hat es mich doch gereizt, weiterzulesen und das Ergebnis meiner Lektüre zu publizieren. Ich finde, derart hochgeistiger Nonsense hat zwar pisagerecht ganz gewiß etwas an deutschen Universitäten zu suchen [26], sollte aber emanzipatorisch denkende und handelnde Menschen nicht ideologisch beeinflussen.

Teil II: Bewerten

Der Optimismus der Evolution

Menschen sind optimistisch und können ihr Leben überhaupt nur meistern, sofern sie dies sind […]. Ein gewisser Optimismus schadet nicht, um gut durchs Leben zu kommen – so zumindest scheint die Evolution uns ausgestattet zu haben. [27]

Auch hier begegnet uns wieder die Argumentations­logik des Scheinens. Nichts genaues weiß auch der Autor nicht, aber es scheint ihm so zu sein, weil es ganz offen­sichtlich in seine Denklogik paßt. Womöglich verrät uns dies mehr über den Autor als über die Wirklich­keit. Unklar bleibt, was denn die Evolution bewogen haben mag, uns mit Optimismus auszustatten, wo doch derartige Gefühls­regungen ein soziales, kein genetisches Phänomen sind.

Experimenteller Sensationshunger

Zwölf Jahre später wurde ein weiteres Experiment publiziert, das die Abhängigkeit der Wahr­nehmung und des Verhaltens von den Erwartungen noch klarer herausstellte: Zunächst teilte man Versuchs­personen dahingehend ein, ob es sich um sensations­hungrige Menschen im Allgemeinen (sensation seekers) oder um wenig sensations­hungrige Menschen handelt.

Und wie hat man/frau das festgestellt? Wurde eine tiefen­psychologische Untersuchung angestellt? Wurde der Begriff sensations­hungrig wissen­schaftlich exakt heraus­gearbeitet? Nein? Dann ist das Experiment auch ohne Wert. Ganz anders sieht das Manfred Spitzer, der sich diese Fragen nicht einmal stellt.

Bei der Suche nach äußerer Stimulation (Sensations­hunger) handelt es sich einer ganzen Reihe von Untersuchungen zufolge um eine relativ stabile und tief greifende Charakter­eigenschaft, die mit dem körperlichen Belohnungs­system und dessen Botenstoff Dopamin in Verbindung steht  […]. Menschen unterscheiden sich nicht zuletzt im Hinblick darauf, wie stark dieses System bei ihnen ausgeprägt ist. [28]

Sensationslust ist also einem Botenstoff geschuldet und nicht eine ansozialisierte Verhaltens­weise, welche zudem nur schwer in eine meßbare Größe umzu­nterpretieren sein dürfte. Wer definiert, was eine Sensation ist und worin die Lust daran besteht? Welches objektive Kriterium für ein vollkommen subjektives Phänomen wird denn dafür herangezogen?

Prägende Glückszustände

Die Untersuchung von Morgan und Mitarbeitern hat erstmals nachweisen können, dass die sucht­erzeugenden Wirkungen von Kokain keineswegs nur genetisch bedingt sind, sondern auch durch relativ kurze Episoden von sozialem Leben klar beeinflusst werden. Um es einmal kurz und knapp zu formulieren: Das Alpha-Männchen braucht kein Kokain, denn es hat genug andere soziale Belohnungen. Sogar relativ kurze Episoden glückenden Soziallebens können somit einen deutlichen Effekt auf das Dopamin­system von Primaten haben.

Lassen wir einmal beiseite, ob „Alpha-Männchen“ nicht einfach nur eine Erfindung von männlichkeits­fixierten Wissenschaftlern ist. Schauen wir, wie die Argumentation weitergeht. Aus Äpfeln werden nur durch einfachen Analogie­schluß Birnen.

Auf den Menschen übertragen bedeutet dies, dass die Lebens­bedingungen einen Einfluss auf unser Belohnungs- und Bewertungs­system haben. Wie jemand lebt, hat einen Einfluss auf seine Bewertungen – schon im Tierversuch.

Was will der Autor uns damit sagen? Wie jemand lebt, hat einen Einfluß darauf, wie er Tierversuche bewertet? Das würde so manches erklären. Doch weiter im Text:

Das Sein prägt das Bewusstsein, hatte der Philosoph Karl Marx schon im vorletzten Jahrhundert hierzu geäußert. [29]

Karl Marx hatte das erstens anders gesagt und zweitens nicht einfach auf Lebens­bedingungen, sondern auf Klassen- und Herrschafts­verhältnisse bezogen:

In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktions­verhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungs­stufe ihrer materiellen Produktiv­kräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktions­verhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesell­schaftliche Bewußtseins­formen entsprechen. Die Produktions­weise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesell­schaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktiv­kräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktions­verhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentums­verhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungs­formen der Produktiv­kräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissen­schaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktions­bedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungs­epoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesell­schaftlichen Produktiv­kräften und Produktions­verhältnissen erklären. [30]

In Euro und Cent verrechnet

Die materiellen Produktions­verhältnisse sind dann auch das Thema seines Fazits – und hier zeigt sich beim Autor selbst, wie das Sein auf das Bewußtsein zurückschlägt:

Die gegenwärtig täglich diskutierten brennenden Probleme unserer Gesellschaft – Gesundheit, Arbeit und Alters­versorgung – erscheinen in diesem Zusammen­hang in einem neuen Licht: Schmerzen und Nächstenliebe müssen in Euro und Cent verrechnet werden, um eine rationale und faire Lösung zu finden. Andererseits darf man die Probleme gerade nicht dem Markt allein überlassen, denn sonst wären Verzerrungen und Unmenschlich­keiten die Folge. Wir können und – aus Einsicht – Richtlinien und Gesetze schaffen, die über unmittelbare Bewertungen hinausgehen. Allerdings müssen diese fair und für jedermann verständ­lich sein, sonst wird der Durchschnitts­bürger rasch zum Klein­kriminellen […]. [31]

Was Euro und Cent mit Nächsten­liebe und Schmerzen zu tun haben mögen, können uns wohl nur eingefleischte Markt­fetischisten verraten. Sicherlich gibt es eine starke Tendenz dahingehend, alle sozialen Dienst­leistungen und Verhaltens­weisen markt­wirtschaftlich zu optimieren. Wo immer Sozial­leistungen kostenlos ausgelagert werden können, wird das Kapital dies tun wollen und auch immer eine willige Regierung und einen willigen Bundestag vorfinden. Insofern ist es auch Unsinn, die Probleme nicht alleine dem Markt überlassen zu wollen, weil auch ein „gezähmter“ Kapitalismus kapitalistisch bleibt und letztlich immer über Leichen geht. Was in diesem Zusammen­hang fair sein soll, ist schleierhaft, denn Kapitalismus ist nicht fair. Es sei denn, fair wird als Ausdruck einer gerechten Markt­transaktion betrachtet, bei der wirtschaftlich Stärkere bitte so freundlich sein mögen, ihre Macht nicht über Gebühr (in Euro und Cent berechnet!) auszuüben. Warum der Durchschnitts­bürger andernfalls zum Klein­kriminellen mutieren soll, ist nicht so ganz einsichtig. Oder meint Manfred Spitzer, das ein verwildernder Kapitalismus die genetische Veranlagung zur Kriminalität hervorkitzeln wird?

Völkische Mentalitäten

Das ist sicher nur so dahergeplappert:

Wer da glaubt, dies sei ein britisches Phänomen, der irrt, denn im Grunde sind die Briten ein recht empirisch angehauchtes Völkchen mit viel Sinn für Humor und wenig Sinn für Esoterik. [32]

Dazu zwei Anmerkungen. Erstens ist das Gerede von den nationalen Eigenschaften absoluter Unsinn (es handelt sich um identitätsstiftende Konstrukte und Zuschreibungen, die im Zweifelsfall nicht einmal verifizierbar sind) und zweitens beweist die zumindest in Kinofilmen und Groschen­romanen herum­geisternde Vorliebe britischer AutorInnen für Gespenster- und Spukgeschichten doch wohl eher das Esoterische. Von Harry Potter einmal ganz zu schweigen. Oder irre ich mich da?

Gewalt als evolutionäres Erbe – oder: was Vitamin C mit Glaubensfragen verbindet

Man hat aufgrund der Erkenntnisse der vergleichenden Verhaltensforschung Grund zur Annahme,

– allerdings werden diese Annahmen dann immer wieder als Beweis herangezogen, was doch etwas vollkommen anderes ist! –

dass wir Menschen über die Anlage verfügen, in einer ausweglosen Situation mit Gewalt­bereitschaft zu reagieren. Wer dies nicht tat,

– und hier wird die Annahme schon zur Gewißheit! –

hatte keine Chance, sein genetisches Material weiterzugeben. Umgekehrt gilt daher: Wer auch immer unsere Vorfahren waren: Gewalt­bereitschaft gehörte zu ihrem Verhaltens­repertoire. […]

Was hat es jedoch mit der Annahme, die plötzlich alles erklärt, wirklich auf sich? Die genetische Veranlagung des Menschen liegt doch offensichtlich darin, daß er ein Gehirn hat und dieses Gehirn über die Fähigkeit verfügt, emotionale Zustände aufzunehmen, zu verarbeiten und zu speichern. Daraus folgt logischer­weise auch, daß das, was wir als aggressiv bezeichnen, aufgenommen, verarbeitet und gespeichert werden kann. Daraus folgt jedoch nicht eine Veranlagung zu gewalt­bereitem Verhalten! Denn in der Regel sind Menschen nicht aggressiv und gewalttätig. Woraus wir doch den sinnvolleren Schluß ziehen müßten, daß Menschen dazu veranlagt sind, Konflikte auf „friedliche“ Art und Weise regeln zu können. Nur unter bestimmten Bedingungen wird zu Aggression und Gewalt gegeriffen. Betrachten wir die Regel und nicht die Ausnahme, dann erklärt dies auch, warum Menschen sich nach sechs Millionen Jahren Lebenszeit noch nicht ausgerottet haben. Betrachten wir die Ausnahme als Ausnahme, müssen wir erklären, woher Gewalt und Aggression unter Ausnahme­bedingungen kommen. Hier wird uns ein psychologischer (psycho­analytischer) Ansatz wesentlich eher weiterhelfen als die Annahme der Weitergabe genetischen Materials. Warum sind Menschen dann gewalttätig? Sie lernen es von Kindesbeinen an, bewußt oder (als Verarbeitungs­strategie) unbewußt. In Mangel- und/oder Klassen­gesellschaften werden Menschen dazu erzogen, sich Bedingungen zu unterwerfen, die einer freien selbst­bestimmten Entwicklung wenig förderlich sind. Dieses dadurch internalisierte Gewalt­potential entspricht der strukturellen Gewalt jeder Klassen­gesellschaft. Das Sein bestimmt auch hier das Bewußtsein.

Die Bereitschaft zu Gewalt gegenüber anderen und sich selbst ist so betrachtet ebenso wenig eine Krankheit wie das Vitamin-C-Synthese­defizit, von dem wir alle betroffen sind.

Zwischen einem bestimmten Sozial­verhalten und einem chemischen Mangel besteht doch wohl ein Unterschied! Aber wenn Manfred Spitzer dies berücksichtigen würde, dann funktionierte die folgende Analogie nicht mehr:

Wir sind trotz dieses prinzipiell tödlichen Stoffwechsel­fehlers in aller Regel symptomfrei, denn wir wissen, wie unser Ernährungs­kontext aussehen muss, um keine Symptome zu entwickeln. Stimmt dieser Kontext nicht, fehlt also Vitamin C, so geht es uns zunehmend schlechter. Nicht viel anders ist der […] Zusammen­hang zwischen einem Leben in Armut einerseits und Gewalt andererseits. Wir sollten wissen, wie unser gesellschaft­licher Kontext auszusehen hat, und dafür sorgen, dass er auch so aussieht, dass Gewalt nicht benötigt und daher auch realisiert wird.

Das klingt sympathisch, setzt jedoch die Überwindung der perversesten Klassen­gesellschaft der Menschheits­geschichte voraus. Darüber redet Manfred Spitzer jedoch nicht. Offen­sichtlich appelliert er an uns, im Rahmen eines strukturellen Wahnsystems Gewalt nicht zu benötigen. Paradoxe Welt! Wenn ich jedoch die Gewalt­bereitschaft aus den gesell­schaftlichen Verhältnissen erklären kann, dann benötige ich keine genetische Veranlagung zur Gewalt. Es bleibt die banale Erkenntnis, daß der genetisch und evolutionär entwickelte Aufbau des Gehirns derartige Gefühlslagen und Handlungs­muster unterstützt, genauso wie die Augen das räumliche Sehen und die Füße den aufrechten Gang ermöglicht – aber nicht vorher­bestimmt! – haben.

Nicht nur Gewalt­bereitschaft gehört zur Conditio humana (wie man die Gesamtheit unserer Erlebens- und Verhaltens­möglichkeiten gelegentlich nennt), sondern auch die Fähigkeit zu glauben. Wir hatten auch gesehen, dass dies im Gegensatz zur Gewalt­bereitschaft gerade unter dem Gesichtspunkt der evolutionären Entwicklung des Menschen zunächst schwer zu verstehen ist, sich dann aber mit der Tatsache der sehr raschen Ausbreitung des Menschen in einen plausiblen Zusammen­hang bringen lässt.

Noch einmal: Stellen wir uns zwei Horden A und B in der afrikanischen Savanne vor 150.000 Jahren vor. In Horde A leben völlig rationale Menschen, die sich immer und nur von der Erfahrung der Realität leiten lassen und keinen Glauben kennen. In Horde B leben demgegenüber Menschen, die an Götter, eine andere Welt, die Erlösung oder Gerechtigkeit im Jenseits glauben, weil ihre Gehirne aufgrund entsprechender genetischer Veranlagung hierzu neigen. Nun kommt es zu einer Trockenheit und zum unausweichlichen Kampf um Essen und Trinken …

Betrachten wir kurz die Plausibilität dieses Gedanken­gangs, bevor wir den von Manfred Spitzer daraus gezogenen Schluß zur Kenntnis nehmen. Erstens: woher nimmt er die Existenz zweier derart ideal­typischer Horden? Das ist doch nur ein Gedanken­konstrukt, das uns zielgerichtet zu einem Ergebnis führen soll, das schon vor dieser Argumentation feststand. Zweitens: wir wissen schlicht nichts über mögliche religiöse Vorstellungen der Menschen vor rund 150.000 Jahren. Alles, was der Autor hierzu sagt, ist spekulativ und durch nichts bewiesen. Drittens: was haben die Gene mit der Neigung zu spirituellen Vorstellungen zu tun? Nichts! Viertens: was passiert bei Trockenheit? Ja, gute Frage. Überlegen wir einfach einmal, wieviele Menschen es damals gegeben haben mag. Es gibt beispiels­weise plausible Schätzungen über die Anzahl der Menschen während der Eiszeit in Mitteleuropa. Demnach haben auf der Fläche Deutschlands vor etwa 25.000 Jahren rund 2.000 Menschen gelebt [33]! Auch wenn dies keine gesicherten Schlüsse auf die Zahl der in den Savannen Afrikas lebenden Menschen vor rund 150.000 Jahren zuläßt, dürfte deren Zahl nicht übermäßig hoch gewesen sein. Was bedeutet, daß im Falle einer Trockenheit die eine Horde einfach weiter­gewandert wäre, bis sie genügend Nahrungs­quellen erschlossen hatte. Wahr­scheinlich erklärt dies viel mehr als ein neugieriger Wandertrieb die rasche Ausbreitung des Menschen auf alle Kontinente. Ein Kampf ums Dasein war also alles andere als zwingend! Doch was fabuliert uns Manfred Spitzer?

Man braucht nicht viel Phantasie, um zu sehen, dass unsere Vorfahren zur Horde B gehörten. Dieses Argument aus dem Bereich der Soziobiologie lautet ganz allgemein so, dass die Rand­bedingungen sozialer Gemeinschaften Verhaltens­weisen wie Glaube, Tugend oder Altruismus begünstigen können, die bei Betrachtung des Individuums außerhalb der Gemeinschaft nie evolutionär entstehen könnten. Da wir Menschen soziale Wesen sind, entstanden diese Eigenschaften, mit all ihren Konsequenzen für unser Zusammenleben. Menschen können einander helfen und sich gegenseitig umbringen.

Wobei hier immer die Bedingungen zu klären wären, warum Menschen dies tun sollten. Michael Moore betrachtet in seinem Film Bowling for Columbine den spannenden Aspekt, daß die Waffendichte in den USA und in Kanada ähnlich, aber die Mordrate vollkommen verschieden ist. Haben Kanadierinnen und vor allem Kanadier andere Gene oder gar eine andere Evolution erlebt?

Ihr Glaube kann sie zu besonders guten oder zu besonders bösen Menschen machen. Ein Blick in die sehr gewaltsame Geschichte lehrt, dass der Glaube schon sehr oft zu sehr viel Leid geführt hat. Es ist daher an der Zeit, die Verbindung von Glaube und Liebe wirklich ernst zu nehmen.

Doch zuvor möchte ich die Frage aufwerfen, woher Manfred Spitzer diese gewalttätige Glaubens­geschichte als anthropo­logische Konstante nimmt. Es gibt keinen Hinweis darauf, daß die Geschichte des Christentums oder des Islam zu verallgemeinern wäre. Schon gar nicht in die graue Vorzeit der Horden A und B. Diese Behauptung Spitzers ist durch rein gar nichts bewiesen!

[…] Die Bereitschaft zu Gewalt und zum Glauben gehört ebenso zur Neurobiologie bzw. Psychologie des Menschen wie die Unfähigkeit unseres Körpers, Vitamin C herzustellen, zu dessen Stoffwechsel gehört. [34]

Da stimme ich dem Autor sogar zu! Da Vitamin C und Glaubensfragen zweierlei sind, gehört die Neurobiologie eben nicht dazu.

Teil III: Entscheiden

Von Neuronen und Theologen

[… M]an kann […] Entscheidungs­prozesse in der Wirtschaft besser verstehen, wenn man die zugrunde liegenden neuronalen Prozesse besser kennt. [35]

Ich empfehle statt dessen einen Blick in Das Kapital des von Manfred Spitzer an anderer Stelle schon bemühten Karl Marx. Bevor ich jedoch die neuronalen Fragen der Wirtschafts­tätigkeit vorstelle, erlaube ich mir einen kleinen (und vielleicht auch schlechten) Scherz auf Kosten der Wissenschaft. Welches sind die drei theologischen Fakultäten einer normalen Universität? Antwort:

  1. Katholische Theologie
  2. Evangelische Theologie
  3. Wirtschaftswissenschaften.

Insofern ergeben die Ausführungen des Autors zu den Glaubens­vorstellungen von Horde B ja schon fast wieder einen Sinn … Jedenfalls ist auch Manfred Spitzer ein Anhänger der ökonomischen Theologie namens Grenznutzen­theorie.

Welche Struktur im Gehirn verrechnet den Wert einer Sache mit der Wahrschein­lichkeit, sie auch zu bekommen? Nur wenn er beides in Betracht zieht, fällt er eine Entscheidung, die eine Größe maximiert: den Nutzen einer Sache (oder Handlung) für den Organismus. [36]

Die normale bürgerliche Wirtschafts­theologie geht vom allseits rationalen Handeln der Marktteil­nehmer aus, was jedoch bekanntlich eine Fiktion ist. Einmal ganz unabhängig davon, daß hierzu alle zugrunde liegenden Fakten und Motivationen aller Marktteil­nehmer bekannt sein müßten, setzt dies voraus, daß Menschen grund­sätzlich rational handeln. Aber genau dies tun sie nicht. Rationales Handeln setzt eine rationale Welt voraus. Die kapitalistische Leistungs­gesellschaft ist jedoch alles andere als rational. Oder genauer: sie wird determiniert vom (rationalen!) Wertgesetz [37], das jedoch als Konkurrenz­prinzip irrational ist. Wir erleben es jeden Tag.

In Kapitel 11 beschreibt Manfred Spitzer ein schönes Experiment mit Affen, die – verkabelt – die Augen so verdrehen sollten, daß sie zur Belohnung ein wenig Saft erhielten. Die Versuchs­anordnung sollte nachweisen, daß schon verkabelte Affen berechnend entscheiden. Lassen wir einfach dahingestellt sein, was damit wirklich bewiesen worden ist, und kommen zum sogenannten Ultimatum-Spiel. Das geht so: Zwischen zwei Spielerinnen bzw. Spielern soll eine bestimmte Summe Geldes verteilt werden. Spieler oder Spielerin 1 sagt, was jeder bzw. jede erhalten soll. Akzeptiert Spieler oder Spielerin 2, erhalten beide ihren Anteil, lehnt Spieler bzw. Spielerin 2 ab, bekommen beide nichts. Rational betrachtet verteilt Spielerin bzw. Spieler 1 den Betrag im Verhältnis 99:1 und Spielerin oder Spieler 2 stimmt zu, denn auch 1 Währungs­einheit ist besser, als nichts zu bekommen. Soweit die Theorie. Die experimentelle Praxis sieht anders aus. Die Experiment­teilnehmerinnen und -teilnehmer wurden nun neuronal gescannt, um ihre Emotionen und deren Quelle im Gehirn abzulauschen. Was Manfred Spitzer dabei vergißt: eine Spiel­situation ist etwas anderes als das wirkliche Leben. Der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse kann dazu führen, unfaire Angebote anzunehmen, die im Spiel vielleicht eher abgelehnt worden wären. Wer allerdings die Mechanismen einer Wahnsinns­ökonomie nicht betrachtet, spielt ein bißchen Spieltheorie und beweist eigentlich nichts [38]. Lustig wird es, wenn der Neurobiologe versucht, Börsencrashs mit depressiven Gefühlslagen zu begründen:

Aus diesem Grund ist es denkbar, dass kleine Schwankungen in der Affektlage vieler am Spiel beteiligter Menschen sich zu größeren Effekten addieren können. Hierfür ein Beispiel: [So] erfolgten drei größere Zusammen­brüche an der Börse jeweils im Herbst, d. h. der Jahreszeit, in der auch die saisonal bedingte Depression den Höhepunkt ihres Auftretens hat. Der entsprechende etwas schwärzer gefärbte Blick in die Zukunft vieler an der Börse beteiligter Menschen mag sich addiert und zum Losbrechen der Lawine geführt haben, die dann einmal ausgelöst, von selbst weiterlief. [39]

Halten wir fest: es ist denkbar und es mag sich addiert haben. Oder anders gesagt: man nehme eine Kurve und bastele sich eine Theorie, die ein Kapitel eines Buches füllt. Eine Theorie übrigens unter Hunderten, die alle die eine Erklärung liefern sollen. Dazu gehört folgerichtig, daß alle Ereignisse, die nicht in das Erklärungs­muster passen, für irrelevant oder als Ausnahme (wovon und weshalb?!) deklariert werden:

Die bisherigen Einbrüche von 1929, 1987 und 1997 könnte man als Ausdruck irrationaler Herbst-Depressivität betrachten, fanden sie doch immer in dieser Jahreszeit statt. Im Frühjahr 2000 war dann die Luftblase so groß geworden, dass sie nur noch platzen konnte, unabhängig von der Herbst­depression […]

Manfred Spitzer hat hier eindeutig nicht zu Ende gedacht. Denn das Frühjahr 2000 ist im Norden ja nichts anderes als – genau! – der Herbst im Süden der Erdkugel. Woraus folgt: Depressionen dieser Art gibt es zwei Mal im Jahr. Daraus müßten sich doch viele neue interessante Hypothesen erfinden lassen. Denn:

Diese Überlegung lässt sich nicht empirisch überprüfen.

Eben. Vielleicht wäre eine ökonomische Analyse aufschlußreicher. Aber darum geht es dem Autor ja nicht. Denn die 50.000 Lehrstühle benötigen eine Beschäftigungs­therapie. Daher:

In Anbetracht der Tatsache jedoch, dass man im Bereich der Ökonomie erst seit kurzem damit anfängt, emotionale Prozesse überhaupt in das Kalkül mit einzubeziehen, erscheint es aufgrund der Tatsache, dass unser aller Wohl auch von der Börse abhängt

–  eine interessante Behauptung! –

(ich bin Beamter und besaß noch nie Aktien, aber meine Rente hängt dennoch indirekt auch von der Börse ab),

– nach welcher wirtschafts­theologischen Erkenntnis? –

ratsam, diese Vorgänge ernst zu nehmen und wissen­schaftlich gründlich zu erforschen! [40]

Ja, da spricht der wahre Wissenschaftler! Eine Behauptung, frei erfunden, läßt sich nach eigener Erkenntnis nicht empirisch verifizieren, was aber kein Grund ist, sie zu verwerfen, sondern einer, das nicht Verifizierbare umso gründlicher zu untersuchen. Wie soll ich einen solchen Autor ernst nehmen?

Von Pillen und Renten

Doch unser neurobiologischer Wirtschafts­theologe hat noch ganz andere Erkenntnisse:

Dass medizinischer Fortschritt in Pillenform die Gesellschaft tief greifend verändern kann, ist mittlerweile eine Binsenweisheit, denn die Auswirkungen der hormonellen Anti­konzeption haben dies längst gezeigt: Käufliche künstliche Hormone haben weibliche Emanzipation und venerische Infektionen, kleine Familien und reform­bedürftige Rentenkassen nach sich gezogen, ohne dass die Gesellschaft bei deren Einführung all dies erwogen hätte. [41]

Also die Pille ist daran Schuld, daß die Renten­versicherung kollabiert. Und da dachte ich, dies sei auf wirtschafts­politische Maßnahmen zurück­zuführen. Also: wenn weniger eingezahlt wird, kann auch weniger herauskommen. Wenn Niedriglöhne eingeführt und Arbeitende entlassen werden, wird weniger eingezahlt. Und die Pille? Ach so: wenn die Pille nicht gewirkt hätte, gäbe es mehr jugendliche Arbeiterinnen und Angestellte, und die Rentenkasse wäre prall gefüllt. Ist doch logisch, oder? Woraus folgt: nur die Pille ist daran Schuld, daß die ungeschickter­weise nicht gezeugten Jugendlichen auch keinen Job bekommen hätten. Ich sag's ja: Wirtschafts­theologie. Man muß nur daran glauben – so wie Horde B.

Freiheit und Wissenschaft

In Kapitel 13 behandelt Manfred Spitzer den Freiheitsbegriff aus der Sicht eines Wissenschaftlers.

Im gesamten Buch ging es mir bisher darum, zu zeigen dass sich das menschliche Gehirn so entwickelt hat, dass es sich immer mehr Freiheitsräume schafft und immer weniger durch die Umwelt determiniert ist. Aber es gibt Leute, die noch mehr wollen und ganz prinzipiell die Frage nach der Freiheit des Menschen im Rahmen von dessen naturwissenschaftlicher Aufklärung stellen.

In diesem Kapitel möchte ich vor diesem Hintergrund Folgendes zeigen: Selbst wenn unser Gehirn tatsächlich wie ein Uhrwerk funktionieren würde, wären wir frei. Diese Freiheit wäre nicht eingebildet oder nur ein Gefühl, sondern sie wäre logisch nicht hinwegzu­diskutieren und mindestens so real wie Zahn­schmerzen. Die Argumentation ist nicht ganz einfach und hat eine längere Tradition. Sie wirft jedoch noch ein ganz anderes Licht auf skeptische und zuweilen sogar fatalistische Über­legungen zu uns selbst. Wer also glaubt, sein Gehirn mache ja alles für ihn, wer sich durch Wissenschaft und Forschung in seiner Freiheit bedroht fühlt und wer gar am liebsten gar nichts mehr tun würde, weil er sich als entscheidende und handelnde Person demontiert sieht, für den ist dieses Kapitel geschrieben. Die Mühe lohnt sich. [42]

Manfred Spitzer rollt einen Wissenschafts­diskurs auf, der von Leibniz über Laplace, Du Bois-Reymond und Kant zu Heisenberg, Jordan und Planck führt. Pierre-Simone Laplace hatte den Gedanken aufgebracht, daß man bei Kenntnis der Anfangs­bedingungen aller Bewegungs­abläufe, mit streng kausalen Regeln und unendlich großer Rechen­kapazität jedes Ereignis voraussagen könne.

Angesichts dieser Sicht der Dinge noch von Freiheit und Selbst­bestimmung zu reden, erscheint äußerst problematisch, um nicht zu sagen: hoffnungslos.

Wenn aber Freiheit in einer deterministisch verstandenen Natur nicht existiert und sich in einer sittlich relevanten Form aus einer indeter­ministisch verstandenen Natur nicht gewinnen läßt, wie gibt es Freiheit dann? [43]

Manfred Spitzer läßt Immanuel Kant zu Wort kommen, der folgende Lösung vorgeschlagen habe. In den Worten Spitzers:

Kausalität ist nicht etwas, das empirisch erfahren werden kann. Die Dinge liegen vielmehr umgekehrt. Unter der Voraus­setzung, dass wir uns die Natur als kausal strukturiert denken, können wir überhaupt Zusammen­hänge in der Natur erkennen. Anders ausgedrückt: Kausale Zusammen­hänge werden nicht von der Wissenschaft in der Natur vorgefunden, sondern werden von uns an die Natur heran­getragen, wann immer wir Erfahrungen machen. Kausalität ist nicht das Ergebnis von (wissen­schaftlicher) Erfahrung, sondern deren Voraussetzung (oder wie Kant sagt: eine Bedingung der Möglich­keit von Erfahrung). Wenn aber Kausalität nicht in der Natur ist, sondern in uns, dann kann es auch keinen Widerspruch zwischen Kausalität und (unserer) Freiheit geben. [44]

Natürlich ist das nicht die Lösung des Problems, sondern allenfalls eine Verlagerung. Max Planck begreift Determinierung daher als Ausdruck von Vorher­sagbarkeit. Damit begibt sich Manfred Spitzer auf das Glatteis der Zeitreise­paradoxa, die sich letztlich so stellen: Wenn ich durch einen Boten aus der Zukunft weiß, wie ich mich gleich verhalten werde, habe ich die Wahl, das, was ich aus der Sicht der Zukunft schon getan habe, zu tun oder auch nicht. Das macht mich frei. Geht dies? Da bislang keine Zeitreisen beobachtet werden konnten, ist dies allenfalls ein hypothetisches Argument. Vor allem geht es am Kern der Frage vollkommen vorbei. Es ist eine rein idealistische Spekulation ohne jede empirische Basis. Deshalb lassen sich daraus auch keine Schlüsse zur Lösung des Problems ableiten, wie es um den Zusammen­hang zwischen determiniertem Handeln und Freiheit bestellt ist.

Dennoch unterliegt das deterministische Weltbild einem fundamentalen Irrtum. Unser Denken und Handeln folgt nicht kausal Naturgesetzen und neuronalen Aktivitäten, genausowenig wie Instinkten oder Genen. Es macht ja gerade das Mensch-Sein aus, sich über die natürliche Determinierung hinwegsetzen zu können. Es sind nicht die Neuronen, die unser Denken bestimmen. Neuronen sind kein Abbild unseres Denkens. Auch bringt eine bestimmte neuronale Aktivität nicht zwangsläufig vorherbestimmte Gedanken hervor. Neuronen und Gedanken sind zwei voneinander zu unterscheidende Ebenen, die nicht determiniert sind. Denn ist es umgekehrt so: wir nutzen die im Gehirn angelegten und vorhandenen Möglich­keiten neuronaler Aktivität, um unsere Gedanken zu formulieren, Bewußtsein zu entwickeln (oder zu verdrängen) und auf dieser Grundlage zu handeln. Erst daraus entwickeln sich moralische Kategorien wie Gut und Böse, die übrigens alles andere als eindeutig definiert sind. Das macht ja schon den sogenannten inter­kulturellen Diskurs so schwierig. Und es ist vollkommen albern, wie die meisten Science-Fiction-Filme oder Serien mit dieser Thematik umgehen. Sie setzen geradezu universale Werte und Verhaltens­weisen voraus und thematisieren nur selten die notwendig unter­schiedlichen Entwicklungs­wege, welche Kulturen auf verschiedenen Planeten gegangen sein müssen. Verständi­gung auf dieser Basis ist schwierig genug – eine brilliante Folge wie Darmok (Star Trek, The New Generation) zeigt nur eine Facette dieser Problematik. Nun wissen wir nichts von fremden Planeten und möglichem Leben dort. Aber wir können kurz innehalten und uns fragen, woher unsere moralischen Kategorien und Verhaltens­weisen kommen, um zu begreifen, daß Steinzeit­menschen absolut nicht so gedacht und gehandelt haben müssen. Hierfür gibt es nicht den geringsten Beleg. Wenn das Sein das Bewußtsein bestimmt (und auch hierbei gibt es durchaus eine Dialektik!), dann wird das Fehlen von Klassen­gesellschaften und damit verbundenen Herrschafts­strukturen auch ganz andere Möglich­keiten und Grenzen menschlichen Denkens und Handelns hervor­gebracht haben. Ich möchte hier ausdrücklich auf den schon erwähnten Gedankengang von Karl Marx hinweisen.

Bei Manfred Spitzer finden wir allenfalls den idealistischen Umgang mit der Freiheits­problematik, die nicht berücksichtigt, daß wir in einer realen Klassen­gesellschaft mit vorgefundenen Herrschafts­strukturen leben. Freiheit bestimmt sich nicht im neuronalen Raum, sondern in der konkreten Wirklichkeit kapitalistisch-patriarchaler Zwänge. Wie Karl Marx richtig sagte:

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst­gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. [45]

Rosa Luxemburg akzentuierte 1902 den Gedanken etwas anders und schrieb:

Die Menschen machen die Geschichte nicht aus freien Stücken, aber sie machen sie selbst. [46]

Während jedoch Manfred Spitzer im idealistischen Raum spekuliert, werden die realen Entscheidungen immer auf der Grundlage der vorherr­schenden Verhältnisse getroffen. Es ist absolut typisch, daß der Autor die Frage von Freiheit, Unfreiheit und Selbst­bestimmung nicht gesell­schaftlich, sondern natürlich auffaßt. Damit entzieht er sich der Entscheidung darüber, ob und wie Freiheit und Selbst­bestimmung unter den gegebenen Verhält­nissen möglich sind. Und das ist womöglich sogar Absicht. Denn ihm geht es ja um seinen Forschungs­gegenstand und nicht darum, die Welt vom Elend des Kapitalismus zu befreien.

Wenn die Gehirn­forschung einen Effekt hat, dann den, dass sie uns freier macht: Wir verstehen immer besser, unter welchen Bedingungen unser Gehirn Entscheidungen fällt und wie Entscheidungen zustande kommen. Dies sollte uns ein besseres, reflektierteres und selbst­kritischeres Verhalten erlauben, und dies wiederum sollte die Qualität unserer Entscheidungs­prozesse verbessern. Nehmen wir als Beispiel das Verhandeln. Wie schon gegen Ende des vergangenen Kapitels angedeutet, könnte ein wiederholter einseitiger Ausgang von Verhandlungen in Zukunft einmal Anlass sein, die Partner zu scannen; dies würde nicht geschehen, um das Ergebnis zu manipulieren, sondern um sicher­zustellen, dass das Ergebnis auch wirklich das Optimum des verhältnis­mäßig für alle Beteiligten erreichbaren Ausgleichs repräsentiert. [47]

Der Ausgang von Lohn- oder Tarif­verhandlungen wäre dann also nicht Ausdruck von politischen und ökonomischen Macht­verhältnissen, sondern von neuronal gescannten Gedanken­mustern. Wozu noch Kriege führen, wenn die Entscheidungs­träger gescannt werden können, um im zweiten Schritt womöglich per Computer­simulation das Ergebnis vorweg­zunehmen? – Ich denke, es wird deutlich, zu welch absurden Vorstellungen derart ideologisch motivierte Gehirn­forschungen führen.

Teil IV: Handeln

Fairness

Nicht nur wir Menschen besitzen einen sehr ausgeprägten Sinn dafür, wie wir behandelt werden sollten und wie die Ressourcen der Gemeinschaft fair unter allen aufgeteilt werden sollten. Dieser Sinn entstand, um langfristig stabile Gemein­schaften kooperativer Individuen zu ermöglichen. Es ist vielleicht gerade in Zeiten des sozialen Abbaus und der Betonung von Markt und Wettbewerb besonders wichtig, sich zu vergegen­wärtigen, dass Fairness und soziale Gerechtig­keit nicht nur beim Menschen als hohe Kultur­leistung (gleichsam unserer eigentlichen „Wolfsnatur“ wider­sprechend) vorkommt, sondern auch bei anderen Primaten zu beobachten sind. [48]

Die Geschichte des Kapitalismus beweist eigentlich nur eines: Gewalt, Raub und Mord sind nicht nur Geburtshelfer dieses Gesellschafts­systems, sondern Motor zur Durch­setzung profitabler Interessen. Was soll also dieses Geseiere?

Soziobiologischer Unsinn

Nicht nur die Tiere verhalten sich zuweilen sehr menschlich; auch Menschen zeigen „tierische“ Verhaltens­weisen, deren Wurzeln nicht in rationalen Entscheidungen des sich verhaltenden Menschen liegen, sondern in der Evolution der Lebewesen, vom einfachen Wirbeltier bis zum Menschen.

Betrachten wir als ein Beispiel unter vielen das Paarungs­verhalten des Menschen. Ging man früher davon aus, dass die dies­bezüglichen Riten, Sitten und Gebräuche ein Produkt der Kultur sind und damit überall auf der Welt anders, so zeigen Studien hierzu ein ganz anderes Bild. Überall auf der Welt folgt die Partnerwahl beim Menschen denselben Gesetzen. Um diese zu verstehen, braucht man nur zu wissen, was es eigentlich bedeutet, männlich oder weiblich zu sein.

Der grundlegende Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Geschlecht besteht im Tier– und im Pflanzen­reich in der Größe der Geschlechts­zellen […]. [49]

Woraus ich als verantwortungsvoller Neurobiologe den geradezu genialen Schluß ziehen müßte, daß die Menschen mit ihren Geschlechts­zellen denken und ihr Handeln bestimmen. Natürlich hat der Autor noch nie etwas vom Patriarchat gehört, und wenn, dann sich sicher nicht weiter damit beschäftigt, weil es als männlicher Forscher kein Interesse daran hat. Das Sein bestimmt eben das Bewußtsein.

Inkonsequent, wie Soziobiologen nun einmal sind, hüpfen sie von den Genen zu Verhaltens­weisen. Aber vielleicht ist das gar nicht so inkonsequent, sondern nur Ausdruck eines ein­dimensionalen Weltbildes, wonach Gene Verhalten steuern und sich nur die Gene durchsetzen, welche das optimale Verhalten gesteuert haben. Aber im Grunde genommen ist der folgende Satz einfach inkonsequent:

Frauen (genauer: weibliche Wesen) haben im Verlauf der Evolution eine ganze Reihe sehr cleverer Strategien entwickelt, Männer auszu­wählen, die nicht nur ihre Nachkommen zeugen, sondern sich auch danach um die Nachkommen kümmern (vgl. hierzu das faszinierende Buch von Blaffer Hrdy 1999). [50]

Ja, was denn nun? Ist es jetzt doch die Strategie und nicht die Genetik, welche ein bestimmtes Sozial­verhalten als globale Norm kreiert hat? Soweit ich diesen neumodischen Unfug verstehe, also die Soziobiologie, geht es doch darum, daß die Gene das Verhalten durch evolutionäre Fort­pflanzung belohnen, das möglichst viele Nachkommen erzeugt hat. Daraus ziehen die Soziobiologen den Schluß, daß das schon in den Genen angelegt sein muß. Dabei müßte der Gedanke doch korrekt so formuliert sein: Im Tierreich entwickeln männliche und weibliche Exemplare (aus Gründen, die wir zunächst vernach­lässigen können) Verhaltens­weisen und Strategien des Lebens und Überlebens. Manche waren offen­sichtlich angepaßter als andere, manche starben aus. Im Laufe der Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende und Jahr­millionen ergibt sich hieraus ein evolutionärer Entwicklungs­pfad. Im Nachhinein (und nur im Nachhinein!) läßt sich dann zeigen, daß gewisse „Strategien“ (von denen erst einmal bewiesen werden müßte, daß sie bewußt verfolgt worden sind) „Erfolg“ gehabt haben. Die Nachkommen der genetischen Träger dieser Strategie haben sich durchgesetzt. Das ist aber etwas vollkommen anderes als die Behauptung, Gene hätten sich durchgesetzt. Und es beweist eben nicht, daß irgendein Verhalten in den Genen angelegt war.

Eine Reihe empirischer Untersuchungen zu den Kriterien der Partnerwahl beim Menschen über die verschiedensten Kulturen hinweg ergab relativ konsistente geschlechtsspezifische Unterschiede (vgl. Buss 1989) […]. [51]

Buchcover Von Affen und Menschen

Der Anthropologe Andreas Paul beschreibt in seinem Buch Von Affen und Menschen die Argumentation von David Buss – und unfreiwillig, wie dumm sie ist:

In der wohl berühmtesten Untersuchung über Partnerwahl­kriterien beim Menschen ließ der amerikanische Psychologe David Buss zwischen 1984 und 1989 mehr als 10000 Menschen aus 33 Ländern und 37 Kultur­kreisen rund um den Globus befragen, wie wichtig ihnen bei einem zukünftigen Ehepartner bzw. einer Ehepartnerin Merkmale wie Einkommen, Ehrgeiz, Aussehen, sexuelle Unberührtheit und Alter seien …].

In der Tat fanden sich Unterschiede, beispiels­weise hinsichtlich des Geldes, daß der oder die Zukünftige denn nach Möglich­keit verdienen sollte. […] Das eigentlich bemerkens­werte aber war, daß in allen 37 Kulturen bzw. Staaten […] die Frauen mehr Wert auf die Einkommens­aussichten des Mannes legten als umgekehrt die Männer auf das Einkommen der Frauen […].

Daß Männer sehr viel mehr Wert auf gutes Aussehen ihrer Partnerin legen als umgekehrt Frauen bei den Männern, bestätigte sich in allen 37 Kulturen. Ebenso zeigte sich überall, daß Männer jüngere Frauen bevorzugten, Frauen dagegen ältere Partner …].

Das Ergebnis der Buss-Studie sind in dreierlei Hinsicht bedeutsam:

  • Erstens machen sie deutlich, daß Partnerwahl­kriterien beim Menschen keineswegs von kulturellen Zufällig­keiten oder gesell­schaftlichen Normen abhängig sind.
  • Zweitens zeigen sie, daß nicht nur das weibliche Geschlecht wählerisch ist – zumindest beim Menschen haben auch die Männer sehr dezidierte Wünsche, was die Eigenschaften ihrer künftigen (Ehe-)Partnerin angeht. Wichtig dürfte dies vor allem dann sein, wenn es nicht um flüchtige Sexual­kontakte geht, sondern um längerfristige Fortpflanzungs­gemeinschaften.
  • Drittens schließlich stehen die Ergebnisse im Einklang mit Erwartungen aus der evolutions­biologischen Theorie: Männer sollten Frauen bevorzugen, mit denen sie möglichst viele Kinder zeugen können. Daß Jugend hier ein wichtiges Kriterium ist, ist nahe­liegend. […] Aus evolutions­biologischer Sicht nicht anders zu erwarten ist ebenfalls, daß Frauen Männer bevorzugen, die ihnen das bieten, was zur Aufzucht von Kindern notwendig ist: Sicherheit und materielle Ressourcen.

Ein Einwand liegt natürlich nahe […]: Wenn Männer überall auf der Welt die Ressourcen kontrollieren, braucht man keine biologische Theorie, um zu erklären, daß Frauen versuchen, auch etwas von dem Kuchen abzubekommen. Einspruch abgelehnt, sagt Buss: Auch wenn Frauen über Macht und Geld verfügen, wollen sie dennoch Männer, die mehr haben als sie selbst. Das ist biologisch vielleicht nicht mehr besonders sinnvoll, zeigt aber, daß wir es hier mit einem von den aktuellen Besitz­verhältnissen unabhängigen, offenbar tief verankerten Verhaltens­programm zu tun haben. Wenn eine welt­berühmte, schwerreiche Diva einen unbekannten, armen Schlucker heiratet, dann erregt dies deshalb so viel Aufsehen, weil es so selten ist. [52]

David Buss hat natürlich gute Gründe, den Einwand abzulehnen. Müßte er doch andernfalls zugeben, daß seine ganze Theorie nichts wert ist. Wenn Frauen sich Männer suchen, die mehr Geld als sie selbst haben, obwohl sie genug davon haben, dann beweist dies nicht etwa, wie David Buss meint, ein nicht besonders sinnvolles biologisches Verhalten. Der Hinweis auf ein tief verankertes Verhaltens­programm ist durchaus richtig, aber er muß anders interpretiert werden. Fünf, zehn oder noch mehr tausend Jahre Patriarchat haben selbst­verständlich ihre Spuren in den Köpfen von Männern und Frauen hinterlassen, allerdings nicht im neuronal-genetischen Sinne eines Manfred Spitzer. Kulturell unhinter­fragbare Normen und Herrschafts­verhältnisse sitzen so tief, daß sie selbst dann wirken, wenn sie nicht mehr benötigt werden oder gar kontra­produktiv sind. Jede Psychologin könnte dies aus ihrer klinischen Praxis bestätigen. Der Übergang zum Patriarchat (was immer davor gewesen sein mag) muß unter bestimmten Voraus­setzungen und dermaßen früh geschehen sein, daß patriarchale Verhältnisse mit all ihren Normen als vollkommen „normal“ gelten und sich deshalb in Untersuchungen wie denen von David Buss relativ einheitlich und eindeutig niederschlagen. [53]

Je älter Männer sind, desto mehr Zeit hatten sie, um ihre wirtschaftliche Stellung zu festigen, und desto attraktiver sind sie für Frauen. In den USA sind die Männer bei der ersten Ehe­schließung etwa drei Jahre älter als die Frauen. Bei der zweiten Ehe beträgt dieser Unterschied fünf Jahre, bei der dritten etwa acht Jahre (Buss 1994). [54]

Oder etwas präziser ausgedrückt: je älter die Männer, desto eher suchen sie sich Frisch­fleisch. Und was die wirtschaft­liche Stellung angeht, ist es ja wohl doch so, daß Frauen immer noch systematisch von gut bezahlten Entscheidungs­positionen ferngehalten werden. Daß Frauen zudem im Durchschnitt nur die Hälfte von dem verdienen, was ein Mann erhält, liegt garantiert an einem evolutions­biologischen Geschlechts­zellenprogramm. [55]

Im Hinblick auf das zuvor Gesagte wurde beispiels­weise gefunden, dass Frauen mit höherem sozio­ökonomischen Status einen Mann mit ebenso hohem sozio­ökonomischen Status bevorzugen (was die Anzahl potentieller Partner vermindert), wohingegen Männer eher Frauen mit geringerem sozio­ökonomischen Status bevorzugen (weswegen bei Männern mit einem höherem sozio­ökonomischen Status sich die Auswahl potentieller Partner eher erweitert.

Die Daten stimmen mit Befunden aus anderen Kulturen sowie anderen historischen Epochen gut überein, wonach es ein durch­gängiges Charakteristikum der menschlichen Partnerwahl ist, dass männliches ökonomisches Investment gleichsam mit weiblichem elterlichen Investment verrechnet wird. [56]

Buchcover Lexikon der Irrtümer über Männer und Frauen

Oder kurz gesagt: Männer suchen sich (vermeintlich) dumme Frauen. Denn ein richtiger Mann kann es ja nicht tolerieren, daß seine Partnerin womöglich gar klüger ist als er. Von dieser Konstellation lebt im übrigen eine ganze Sternchen- und Filmindustrie. Manfred Spitzer plappert den Soziobiologen eine evolutions­ökonomische Begründung nach; dabei liegen die wahren Zusammen­hänge offen zutage. Mann muß sie nur zur Kenntnis nehmen wollen.

Sicher, jede Frau sollte intelligent genug sein, um die richtige Wahl für sich zu treffen (falls sie die treffen will). Doch ihren IQ – falls er über dem Durchschnitt liegt – sollte keine bindungs­willige Frau an die große Glocke hängen. Das jedenfalls legen zahlreiche Befragungen nahe.

Denn ganz oben auf der männlichen Wunschliste stehen bei den Eigenschaften, die eine Traumfrau haben sollte, die weibliche Treue. Rund 90 Prozent aller Männer halten sie für das Wichtigste bei ihrer Märchen­prinzessin. Danach folgen Zuverläs­sigkeit (85 Prozent), Zärtlich­keit (79 Prozent) und Einfühlungs­vermögen (74 Prozent). Und auch Spar­samkeit (63 Prozent) schätzen Männer am weiblichen Geschlecht. Ob sie da wohl ihr eigenes, sauer verdientes Monatssalär im Auge haben?

Alle Jahre wieder werden Männer gefragt, wie ihre Idealfrau beschaffen sein sollte. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Kognitions­psychologe Steven Pinker Nordamerikaner befragt oder das Institut für Rationelle Psychologie die Wünsche der Männer in Deutschland unter die Lupe nimmt. Im Grunde genommen sucht der Mann nicht das Supermodel, sondern eine Frau, »die sein Selbst­bewusstsein stärkt«. Dagegen durften weibliche Intelligenz (23 Prozent) und Willens­stärke (18 Prozent) eher vernachlässigt werden. [57]

Moralische Fallen

Eine beliebte Fragestellung ist die Konstruktion eines unentrinnbaren Dilemmas. Ziel hierbei ist es beispiels­weise zu zeigen, daß es keine gute Lösung für ein Problem gibt und deshalb auch eine (moralisch) schlechte Lösung vertretbar ist. Alternativ läßt sich ein Dilemma erzeugen, das beim Leser oder der Betrachterin Schuld­gefühle erzeugt und so vom wesentlichen Problem ablenkt. Einen solchen Fall (und damit auch: eine solche Falle) haben wir hier vorliegen:

Stellen Sie sich vor, Sie sind mit dem Auto unterwegs und sehen einen Mann am Straßenrand liegen, der am Bein stark blutet. Sie halten an, sehen ein schrottreifes Motorrrad im Straßen­graben und erfragen von ihm, dass er gerade einen Unfall hatte und dringend medizinische Hilfe braucht. Sollten Sie den Mann im Auto mitnehmen, obwohl Sie damit riskieren, dass Ihre schönen Autositze mit Blut verschmiert werden und vielleicht nicht mehr zu reinigen sind? – Wahr­scheinlich reagieren Sie entsetzt: Nur ein Unmensch kann sich diese Frage wirklich stellen; natürlich würde man helfen etc.

Dabei wäre es sicherlich spannend, dieses Beispiel konkret zu untersuchen. Wir würden garantiert massenhaft Fälle unterlassener Hilfeleistung sehen. Doch weiter:

Nun stellen Sie sich weiter vor, Sie bestellen sich gerade einen neuen Wagen und können die Innen­ausstattung wählen. Schöne Ledersitze kosten 800 Euro extra. Stellen Sie sich weiterhin vor, dass Sie auch den Spenden­aufruf einer bekannten karitativen Organisation in der Post haben. Sie erfahren wieder einmal, was jeder ohnehin weiß: Elf Millionen Kinder sterben jedes Jahr einen vermeidbaren Tod durch Mangel­ernährung oder ganz einfach behandelbare Krankheiten – nur weil es am nötigen Geld fehlt. Mit einem Euro könnten Sie ein Kind vor lebenslanger Blindheit bewahren, und mit fünf Euro könnten Sie ein Kind vor dem sicheren Tod durch eine Infektions­krankheit retten. Sie überschlagen kurz, dass die Ledersitze 800 blinde bzw. 160 tote Kinder bedeuten, werfen dann jedoch den Brief der Organisation in den Papierkorb. Da könnte ja jeder kommen, warum ich, andere haben mehr Geld etc. geht Ihnen durch den Kopf, und Sie fühlen sich schon wieder besser und freuen sich auf Ihr neues Auto.

Hand aufs Herz: Wir alle verhalten uns mehr oder weniger so, könnten leicht auf einen Euro hier oder da verzichten (oder auf 5 oder 1000). Aber wir tun es nicht (vgl. Greene 2003). Während wir im ersten Fall von unterlassener Hilfeleistung sprechen, also von einem Straftat­bestand, akzeptieren wir das letztlich viel gravierendere Verhalten im zweiten Fall als völlig normal. Es fällt sehr schwer (oder ist vielleicht ganz unmöglich), diese tatsächlich bei uns vorhandenen Verhaltens­weisen zu begründen.

Warum handeln wir so inkonsistent? [58]

Während Manfred Spitzer diese moralische Entscheidung im Scanner untersuchen würde und davon ausgeht, daß uns direkt erfahrbares Leid mehr anspricht als weit entferntes, frage ich nach dem Sinn dieser hier aufgeworfenen Alternative.

Ist es moralisch verwerflich, nicht zu spenden und an sich selbst zu denken? Oder ist es moralisch bedenklich, die falsche Frage zu stellen? Woran liegt es denn, daß elf Millionen Kinder (die Zahlen variieren zwischen 6 und 20 Millionen pro Jahr) verhungern oder an leicht heilbaren Krankheiten sterben müssen? Manfred Spitzer sagt: weil es am nötigen Geld fehlt. Das ist richtig und falsch zugleich. Den Kindern fehlt es am Geld, nicht jedoch einer globalen Ökonomie, die auf Geld, Macht und Profit aufbaut. Typisch ist jedoch, diejenigen in die moralische Pflicht zu nehmen, die allenfalls an diesem weltweiten Skandal in der Weise mitwirken, daß sie der imperialistischen Maschinereie im Herzen der Bestie nicht in die Arme greifen. Einzelne Spenden mögen einzelne Schicksale retten, aber global betrachtet krepieren dennoch elf Millionen Kinder jedes Jahr. Allein diese Todesrate des Kapitalismus auf ein Jahrhundert umgerechnet, bedeutet die Auslöschung der Bevölkerung Indiens oder Chinas! Nur – Manfred Spitzer benennt die hierfür zuständigen Täter nicht ein einziges Mal in seinem Buch, sondern moralisiert und philosophiert ein bißchen im neuro­biologischen Sumpf der selbst­bestimmten Entscheidungs­freiheit herum.

Ich glaube nicht, dass die Neurobiologie zwischen unterschiedlichen Ethiken unterscheiden kann […]. Ich meine jedoch sehr wohl, dass die Gehirn­forschung uns dabei helfen kann, uns selbst besser zu verstehen. Sie wird uns dadurch auch helfen, unser Schicksal selbst zu bestimmen. Wer erst einmal weiß, wie wichtig emotionale Betroffen­heit oder erlebte Fairness für das Zustande­kommen moralischer Entscheidungen sind, der tut sich schwer, diese Aspekte bei tatsächlichen Entscheidungen außer Acht zu lassen. [59]

Nur zur Erinnerung: Der zwischen 2004 [dem Zeitpunkt der Erstfassung des hier zu lesenden Textes] und 2010 amtierende Bundes­präsident Horst Köhler entstammt der Schreibtisch­täter-Organisation IWF, war zwischen 2000 und 2004 dessen Direktor. Fairness wird er daher ganz sicher nicht zum Leitmotiv moralischer Entscheidungen machen können. Dann am Kinder-Krepieren ist der IWF bekanntlich maßgeblich mit entscheidend [60]. Vielleicht sollte Manfred Spitzer den inzwischen zurück­getretenen Bundes­präsidenten hier ein wenig anspitzen und ihn nach seiner Verantwortung für dies massenhafte Sterben fragen. Ich glaube, unser gehirn­forschender Autor wird sich wundern, was Fairness wirklich bedeutet. Denn:

Wenn man weiß wie moralische Entscheidungen im Gehirn geschehen, so folgt daraus keine Norm (dies wäre ein klassischer naturalistischer Fehlschluss), aber es können sich durchaus konkrete Schluss­folgerungen für die Art, wie wir entscheiden, ergeben. Und wenn das Streben nach Fairness und Verständnis als dem Menschen natürlicher­weise innewohnend erkannt wird, dann wird es schwer, unfaire und unver­ständliche Entscheidungen (bzw. Strukturen, die diese hervorbringen) zu rechtfertiigen. Bei aller Vorsicht wage ich daher zu behaupten: Unsere Moral könnte von der Neurobiologie profitieren. [61]

Ein neurobiologischer Sozialpolitiker

Wie wenig Erkenntnis­gewinn uns Manfred Spitzers moralisierend neuro­biologisches Geschwätz bringt, mag folgendes Beispiel erhellen:

Betrachten wir die Renten: Sie sind durch eine Vielzahl von Einflüssen bestimmt, an den wir kurzfristig wenig oder nichts ändern können, wie insbesondere die Alters­verteilung der Bevölkerung. Variabel an der Rente sind drei Größen: der Input (Beitragssatz), der Output (die Höhe der Renten) und das Renten­eintrittsalter (d. h. die Altersgrenze zwischen Geben und Nehmen). […] Will man nun Beiträge und Renten auf einem bestimmten Niveau stabil halten, braucht man lediglich eine Funktion einzuführen […], die das Renten­eintrittsalter als Funktion des Input, des Output und der Alters­verteilung ausgibt. Damit könnte das Renten­eintrittsalter jährlich (oder monatlich – oder warum eigentlich nicht täglich?) berechnet werden, und das System wäre stabil. Wir bräuchten uns um die Renten nie mehr Sorgen zu machen. [62]

Manfred Spitzer unterschlägt hierbei, daß die Rente noch von einem weiteren Faktor abhängt, nämlich den wirtschafts­politisch erwünschten geringeren Lohn­nebenkosten. Mit einem Niedrig­lohnsektor, geringerem Einstiegs­gehalt und gezielten Angriffen auf soziale Errungen­schaften wird folgerichtig der Input (und zwar nicht der Beitragssatz, sondern die Summe aller Beiträge) verringert. Nach Spitzers Rentenformel bedeutet dies, daß das Renten­eintrittsalter sich immer weiter Richtung Tod verschiebt, so daß nachher relativ wenige Menschen ein möglicher­weise sogar stabiles Rentenniveau erreichen, mehr Menschen hingegen vor Erreichen des höheren Renten­eintrittsalters sterben und der Rest zwischen Arbeits­losigkeit, Altersarmut und noch nicht Verrentung sehen muß, wo er bleibt. Welches Neuron dem Autor diesen sozial­politischen Quatsch (der allerdings hoffähig ist!) eingegeben hat, möchte ich lieber nicht wissen. Manfred Spitzer macht sich somit jedoch zum Fürsprecher neoliberaler Ausgrenzung und moralisiert an Neben­sächlichkeiten herum. Der Sinn dieser Übung kann eigentlich nur der sein, brutale Sozialpolitik zu legitimieren, ohne sich als Anhänger derselben zu outen.

Ihre Zentralheizung verstehen die meisten Menschen. Würden sie die Mechanik der Sicherungs­systeme und der politischen Entscheidungen ebenso verstehen, dann wären sie nicht politik­verdrossen. Sie würden dann auch gerne ihren Beitrag zur Gemeinschaft leisten, denn Menschen sind Gemeinschafts­wesen, werden von ihren Gehirnen bei kooperativem Verhalten belohnt und haben sogar biologisch nahe Verwandte, wahr­scheinlich nicht nur die Kapuziner­affen, die ebenfalls auf Fairness und gerechte Ressourcen­verteilung großen Wert legen. Werden wir unfair behandelt, tut uns das weh – metaphorisch und tatsächlich, wie die Gehirn­forschung zeigen konnte. Es ist an der Zeit, dass wir damit aufhören, uns  – neuro­biologisch betrachtet – nicht nur dauernd die Lust zu nehmen, sondern uns auch gegenseitig weh zu tun. Mit Achselzucken und der Bemerkung, das System sei nun mal so, ist nicht geholfen. Das System sind wir. Und wir können es ändern. Jeder kann, soll und muss selbst bestimmen. [63]

Allerdings ist ein soziales Sicherungs­system keine Zentral­heizung und folgt anderen (sozialen!) Regeln. Das Verständnis dieser sozialen Regeln und das schreiende Unrecht, das sich darin ausdrückt, sollte eigentlich zum radikalen (nicht­kapitalistischen!) Umbau der Gesellschaft führen. Politikver­drossenheit ist keine Erkenntnis­frage. Politikver­drossen ist der/die, welche keinen Sinn darin sehen, sich in eine Sache einzumischen, die nicht die ihre ist. Kapuzineraffen und deren Fairness haben mit dieser Problematik nur insofern zu tun, als sie darauf hinweisen, daß eine kapitalistische Gesellschaft strukturell nie fair sein kann. Obwohl Karl Marx richtiger­weise darauf hinweist, daß beim Werte­tausch das Prinzip der Gleichheit abstrakter Tauschwerte gilt. In der Praxis ist der ungleiche Tausch jedoch vorherrschend. Die Gehirn­forschung ist zur Erkenntnis dieser gesell­schaftlichen Tatsachen nicht in der Lage, weil sie sich mit dem falschen Gegenstand beschäftigt. Bleibt die Frage, was oder wer das System ist. Die kapitalistische Produktions­weise ist eine gesell­schaftliche Struktur, deren Gesetz­mäßkeiten sich hinter dem Rücken der ProduzentInnen durchsetzen – dies ist die wahre Bedeutung der invisible hand von Adam Smith. Woraus folgt, daß wir (wer auch immer dieses volks­gemein­schaftliche wir sein mag) das System sind und es gleichzeitig auch nicht sind. Für die Änderung sind wir jedoch sicherlich zuständig, allerdings in einem anderen Sinn, als Manfred Spitzer sich dies vorstellt. Der Kapitalismus als asozialste aller bisherigen menschlichen Veranstaltungen gehört auf den Müllhaufen der Geschichte! Dies ist eine moralische Frage und sie stellt sich uns, jeder und jedem einzelnen.

Kritik

Kritik klingt zwar immer schlau, aber ist im Grunde einfach, viel einfacher jedenfalls, als es selbst besser zu machen. [64]

Aber Kritik ist die notwendige Vorbedingung, um es besser machen zu können. Sicher ist es richtig, daß Kritik Verantwortung nach sich zieht. Destruktive Kritik hat jedoch auch dann ihr Recht, wenn daraus keine Konsequenz erfolgt, Vorschläge zu unterbreiten, wie es anders gehen könnte. Denn manche Kritik zielt über den Rahmen des Bestehenden hinaus. Es gibt Zustände, die sich nicht verbessern oder sonstwie verändern lassen, sondern die abgeschafft gehören. Das – wie Manfred Spitzer zutreffend bemerkt: ziemlich tödliche – kapitalische Wahnsystem gehört ganz einfach abgeschafft.

Fazit

Entweder ist der neuro­biologische Hintergrund menschlichen Denkens und Handelns trotz aller dargestellten Fehl­schlüsse mit eindeutig ideologisch motiviertem Hintergrund richtig – dann wäre dies nachzuweisen. Oder es gibt einen eindeutigen Zusammen­hang zwischen Ideologie und Forschungs­zweck. Dann könnte man und frau die Ergebnisse der Hirn­forschung genauso wie die Soziobiologie als postmoderne Gesellschafts­wissenschaft betrachten, welche den Zweck verfolgt, unser Handeln in genetische Korsetts zu zwängen, um die Konsequenzen einer kapitalistischen Leistungs­gesellschaft zu leugnen. Dann hätten wir es streng genommen nicht mit Wissenschaft, sondern mit Apologetik zu tun. Eine solche apologetische „Wissenschaft“ paßt zum vorherr­schenden neoliberalen Zeitgeist. Die philanthropisch-philosophischen Flausen eines Manfred Spitzer verdecken dann nur, worum es wirklich geht. Insofern ist sein Buch Selbstbestimmen nur eine weitere illusionierende Erscheinung des medialen Marktes.

Walter Kuhl
7. Juni 2004