Koreanische Schrifttafeln.
Reflexionen über die Änderung der Welt
Walter Kuhl
Koreanische Schrifttafeln.
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Deutscher Alptraum.
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Arc de Triomphe in Paris.

Eigene frühe Texte

Wider die monokausalen Erklärungen „langer Wellen“!

Nachbereitung eines Redebeitrags

Buchcover.

Kontroversen zur Krisentheorie, VSA Verlag, Hamburg 1986, 180 Seiten, vergriffen, einst DM 14,80.

Am 5. und 6, April 1986 fand in Frankfurt/M. eine wirtschafts­politische Konferenz statt. Träger dieses Unterfangens waren die Redaktionen der Zeitschriften Prokla (einstmals, lange ist es her, als Probleme des Klassenkampfs gegründet), SPW und Sozialismus, die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschafts­politik, sowie das Institut für marxistische Studien und Forschungen (IMSF). Manchmal kann ich meine Klappe nicht halten und habe mich in einer Arbeitsgruppe, die sich mit langen Wellen befasste, meine eigenen Gedanken hierzu zum Besten gegeben. Dies ist die nachträgliche Verschriftlichung und Ausarbeitung meines Redebeitrags. Er wurde freundlicher­weise in den vom VSA-Verlag heraus­gebrachten Tagungsband Kontroversen zur Krisentheorie auf den Seiten 105 bis 110 aufgenommen. [1]

[Empirie]

I. Die Schwierigkeiten, lange Wellen empirisch zu belegen (über Zeitreihen etc.), liegen in der notorischen Unzuver­lässigkeit und unwissen­schaftlichen Systematik der verfügbaren statistischen Daten begründet. Zum einen werden diese Daten auf bürgerlich-„wissen­schaftlicher“ Grundlage erhoben und bearbeitet, und es dürfte – trotz verschiedener Versuche – ein kaum lösbares Problem darstellen, sie in marxistische Termini so zu übersetzen, daß sie für eine wissen­schaftliche Analyse verwertbar werden. Zum anderen abstrahiert die Marxsche Analyse der Gesetz­mäßigkeiten der kapitalistischen Produktions­weise (KPW) von den konkreten Oberflächen­bewegungen des Kapitale und den konkreten gesell­schaftlichen Verhältnissen; die abstrakt gefundenen Gesetze lassen sich also in concreto nicht mit der gewünschten Exaktheit ausmachen. Die Korrelation zwischen empirischen Daten und den Gesetzmäßigkeiten der KPW ist nur analytisch herstellbar. Statistiken spiegeln zwar die „Realität“ wider, sind ihr aber nicht gleich­zusetzen. Daher ist die Empirie prima facie weder Beweis für noch gegen die Existenz langer Wellen.

Unabhängig von dieser Überlegung zeigen zyklische Krisen und periodisch widerkehrende Depressions­phasen, daß die Gesetz­mäßigkeiten der KPW so wirken, wie es Marx seinerzeit analysiert hat. Dies nun erlaubt Aussagen zum „tendenziellen Fall der Profitrate“, welche an der Daten­„realität“ zwar zu messen sind; Widersprüche zur Datenbasis müssen jedoch analytisch und nicht nach dem bloßen Augenschein erklärt werden.

Nach dem von mir vertretenen Ansatz hängen die Bewegungen langer Wellen mit dem Verlauf der Profitraten­entwicklung zusammen. Die Profitrate selbst wird dabei nicht als die Ursache langer Wellen begriffen, sondern als ein Indiz für deren konkrete Bewegung (so auch Mandel 1972, 37) – ursächlich sind die Gesetz­mäßigkeiten der KPW.

Selbstver­ständlich muß eine Theorie langer Wellen in der Lage sein, „Sonder­entwicklungen“ zu erklären. Ein Beispiel ist der nicht „gesetzmäßige“ Boom in den USA während der „depressiven“ Phase einer langen Welle 1873/96. Hier spielt sicher eine besondere historische Situation die entscheidende Rolle: die „Rekonstruktions­phase“ nach dem Bürgerkrieg, verbunden mit starker Binnen­kolonisation und der enormen Ausdehnung des „inneren Marktes“.

So müssen Lange Wellen-Theoretiker auch der Frage nachgehen, warum es nicht wenige „Sonder­entwicklungen“ gibt und wie sie sich mit der Theorie langer Wellen vereinbaren lassen.

„Sonderentwicklungen“ lassen sich möglicher­weise in 4 Kategorien einteilen:

  1. Weltmarktin­dependenz: Bsp. USA, wie oben beschrieben. Eigene nationale kapitalistische Entwicklung mit kaum entfalteter Weltmarkt­abhängigkeit – evtl. verbunden mit „nachzu­holender“ Entwicklung (vgl. vielleicht Japan Ende 19./Anfang 20. Jh.).
  2. Weltmarkt­desintegration: Eine Desintegration des Weltmarktes (z.B. zu Beginn der 1930er Jahre) koppelt einige Länder ab und zwingt sie zu eigenständiger Kapital­akkumulation („Import­substitution“ in Lateinamerika bis in die 1950er Jahre).
  3. Weltmarkt­dominanz: Völlige oder weitgehende Abhängigkeit einer nationalen Ökonomie vom Weltmarkt. Die nationale Ökonomie wird zwar von der Weltmarkt­akkumulation im Rahmen langer Wellen dominiert, kann diese jedoch – mangels eigener genügend akkumulations­fähiger Basis – nicht reproduzieren. (für Lateinamerika: development of under­development – Frank).
  4. Phase der Herstellung des Weltmarkt­zusammenhangs: Die Existenz langer Wellen wird von Autoren wie Frank und Wallerstein [für diese Phase vor 1800] behauptet. Da sie dann wohl kaum von industrieller Produktion und der Profitraten­entwicklung abhängig zu machen sind (Vorherr­schaft des Handelskapitals), wäre diese gesamte Phase eine einzige „Sonder­entwicklung“ mit einer auf Handel beruhenden internationalen Arbeitsteilung. In ihr wiederum sind Sonder­entwicklungen nach Pkt. 1–3 möglich. Dies ist jedoch nur eine Hypothese, denn die Frage selbst (lange Wellen vor 1800) ist noch nicht entschieden.

Lange Wellen entstehen und wirken im Weltmarkt­zusammenhang, und ihr Verlauf wird durch die Kapital­bewegung in den weltmarkt­dominanten Metropolen bestimmt – daher sind „Sonder­entwicklungen“ eigentlich völlig normale Entwicklungen.

[Innovation]

II. Unzureichend ist es, lange Wellen alleine aus technologischen Erfindungen bzw. aus der Anwendung dieser (Basis­innovationen etc.) herzuleiten, da die Entwicklung der Profitrate nicht allein von der organischen Zusammen­setzung des Kapitals, sondern auch von der Mehr­wertrate abhängig ist.

Es bietet sich hier ein Rekurs auf das von Marx formulierte „Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ – unter Einschluß der von ihm sog. „entgegen­wirkenden Ursachen“ – an, um der Erklärung langer Wellen eine solide theoretische Grundlage zu geben.

„Und so hat sich denn im allgemeinen gezeigt, daß dieselben Ursachen, die das Fallen der allgemeinen Profitrate hervorbringen, Gegen­wirkungen hervorrufen, die diesen Fall hemmen, verlangsamen und teilweise paralysieren. Sie heben das Gesetz nicht auf, schwächen aber seine Wirkung ab. Ohne das wäre nicht das Fallen der allgemeinen Profitrate unbegreiflich, sondern umgekehrt die relative Lang­samkeit dieses Falls. So wirkt das Gesetz nur als Tendenz, dessen Wirkung nur unter bestimmten Umständen und im Verlauf langer Perioden schlagend hervortritt.“ (MEW 25, 249)

Diese Wirkung besteht in den schwerer werdenden Krisen während der „depressiven“ Phase einer langen Welle. Sie kann nicht im Rahmen „normaler“ industrieller Zyklen erklärt werden, weil dann danach zu fragen wäre, weshalb im Lauf der Zeit die Aufschwünge eines Zyklus kürzer und schwächer ausfallen, die Krisen aber länger und tiefer. Hier reicht es dann nicht aus, zu „historischen Besonderheiten“ Zuflucht zu nehmen.

Im folgenden fasse ich die „entgegen­wirkenden Ursachen“ zum tendenziellen Fall der Profitrate zusammen (wobei ich sie anders als Marx strukturiere, was für den Gang der Argumentation jedoch unerheblich ist) und verknüpfe sie mit aktuellen Beispielen, die verdeutlichen werden, wie wenig ausreichend eine monokausale Erklärung langer Wellen und kapitalistischer Krisen„lösung“ ist. Das Aufeinander­wirken der diversen „Ursachen“ ist ein zusätzlicher wesentlicher Punkt, der diese „Lösung“ vorantreibt.

  1. Kapitalentwertung/­–vernichtung: Hier ist insbesondere die Verschuldungs­krise zu nennen, die noch einer Lösung harrt: das Miß­verhältnis zwischen realer und monetärer Akkumulation muß – qua innerer Bewegungs­logik der KPW – krisenhaft zurecht gerückt werden. Vgl. hierzu den Bankenkrach 1929 ff. Dazu kommen Kapital­entwertung durch technologische Innovationen und Über­kapazitäten.
  2. Lohnsenkung: Diese muß, um die Mehrwertrate massiv zu erhöhen, drastisch ausfallen. Die bisher eher schwachen Reallohn­senkungen in den Metropolen (incl. Einschnitte ins „soziale Netz“) werden bislang teilweise durch einschneidende Austerity-Politiken in der „3.“ Welt kompensiert (Frank 1981: „super­exploitation“). Wahr­scheinlich reichen die bisher ergriffenen Maßnahmen noch bei weitem nicht aus, denn der wesentliche Teil weltweiter Kapital­akkumulation findet in den Metropolen statt.
  3. Neue Technologien: Neue T. verändern die technische und somit auch die organische Zusammen­setzung des Kapitals. Sie ermöglichen erhöhte Flexibilisierung bei der Kapital­verwertung, die „Poren“ im Arbeitsprozeß werden weiter verdichtet oder verschwinden ganz. Kleinserien­produktion wird wieder rentabel. Prozeßinnovationen fördern Änderungen in der Arbeits­organisation und führen zu einer Umqualifizierung von Arbeitskräften (Entquali­fizierung, aber auch Qualifizierung), verbunden mit der Durch­rationalisierung und Intensivierung des Arbeits­prozesses. – Neue Branchen mit höherer Profitrate (als der Durchschnitts­profitrate) entwickeln sich auf der Basis neuer T.
  4. Infrastruktur: Neue Kommunikations- und Transport­technologien verkürzen die Umschlag­zeiten des Kapitals und ermöglichen eine „neue internationale Arbeitsteilung“. Lagerhaltungs­kosten lassen sich drastisch reduzieren.
  5. Neue Märkte: Z.T. via Verschuldung wurden zu Beginn der „depressiven“ Phase ab Ende der 60er Jahre (das Datum 1967 als Beginn dieser Phase scheint mir plausibler als die Krise 1974/75 wegen der ersten weltweiten Nachkriegs­rezession, der politischen Ereignisse – Pariser Mai, Studenten­bewegung, … – und des Zusammen­bruchs des Bretton-Woods-Systems) neue Märkte in der „3.“ Welt und in den Ländern des Realen Sozialismus geöffnet; hinzu kamen als „keynesianische“ Maßnahme die sozial­staatlich finanzierte Erweiterung der Massen­kaufkraft und – insbes. in den USA (Vietnam-Krieg, Star Wars) – der Rüstungs­keynesianismus. Zukünftig werden, nach der nächsten Krise 1986/88, neue Märkte wohl eher über die „Wachstums­branchen“ und evtl. über Rüstungs­produktion geschaffen werden.
  6. Verbilligung der Rohstoffe: Die letzte Ausnahme in diesem Trend – Erdöl – ist von den Gesetz­mäßigkeiten der KPW eingeholt worden.

[Wellen oder Zyklen?]

III. In der marxistischen Lange Wellen-Forschung gibt es über die Eckdaten langer Wellen nur unerhebliche Differenzen; umstritten hingegen ist ihr (quasi)zyklischer Charakter. Die Beantwortung der Frage ihrer Zyklizität hängt insbesondere davon ab, ob die Etablierung einer neuen „expansiven“ Phase (nach dem „unteren Wendepunkt“) endogen oder exogen bestimmt ist. Es taucht nun die generelle Schwierigkeit auf zu bestimmen, was endogene von exogenen Faktoren unterscheidet. Sind Kriege oder Klassen­kämpfe „exogen“ oder ist es nicht so, daß sie Folge bzw. Begleitumstand der Widersprüchlichkeit der KPW sind?

Zur Unterscheidung endogener von exogenen Faktoren wird im weiteren folgende Definition zugrunde gelegt: Endogene Faktoren sind unmittelbar vom Wertgesetz bestimmt (also z.B. das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate bzw. die „entgegen­wirkenden Ursachen“). Exogene Faktoren sind mittelbare Auswirkungen dieser Gesetz­mäßigkeiten: historische Ereignisse spiegeln die ökonomische Entwicklung wider bzw. resultieren aus den Widersprüchen der KPW. Zum „historischen Zufall“ vgl. MEW 33, 209.

Eine „expansive“ Phase einer langen Welle erstreckt sich über einen Zeitraum von 2–3 industriellen Zyklen (ca. 20–30 Jahre), bis der tendenzielle Fall der Profitrate soweit fortge­schritten ist, daß eine „depressive“ Phase erreicht wird. Es handelt sich hierbei um einen aufgrund der Gesetz­mäßigkeiten der KPW zwangsläufigen Prozeß, den die „entgegen­wirkenden Ursachen“ offen­sichtlich nicht wesentlich haben aufhalten können. (Sonst müßten wir industrielle Zyklen vor dem Hintergrund stetiger Kapital­akkumulation beobachten können. – Einer Stadientheorie messe ich in diesem Zusammenhang keinerlei Bedeutung zu.) Die entstandene Überakkumulations­krise wird, soweit keine exogenen Eingriffe stattfinden, zwangsläufig durch das Wirken der „entgegen­wirkenden Ursachen“ (kapitalistisch) „gelöst“: der neue „Aufschwung“ läßt sich als kumulativer Prozeß auf der Grundlage der o.a. 6 „Ursachen“ erklären. Historische Besonder­heiten im Verlauf der „depressiven“ Phase, dies als Hypothese, äußern sich dann nicht darin ob, sondern wie expansiv der neue „Aufschwung“ ausfallen wird.

Historisch betrachtet läßt sich zumindest bis heute kein Beispiel anführen, wonach irgendwelche exogenen Faktoren eine neue „expansive“ Phase verhindert hätten. Den historischen Befund verbunden mit der Gesetz­mäßigkeit der KPW, bedeutet dies, daß es sich bei langen Wellen tatsächlich um Zyklen handelt, die nur mit dem Verschwinden des Kapitalismus beendet werden.

[Ein Ende?]

IV. Die Ablehnung der Theorie langer Wellen hängt auch mit dem Determinismus – oder Fatalismus, je nach Standort der Kritik – zusammen, der in der Theorie durchscheint. Determinismus ist aber doch nicht Fremd­bestimmung in dem Sinn, daß wir fatalistisch dem Wirken kapita­listischer Gesetze zusehen müssen. Die KPW ist inhärent wider­sprüchlich; und nur diese Wider­sprüchlichkeit ist der objektiv gegebene Grund dafür, daß der Kapitalismus nicht von Dauer sein muß.

Die Menschen schreiben ihre Geschichte selbst (wenn auch unter vorgefundenen Bedingungen); und gerade das Erkennen objektiver Zusammen­hänge und der Wider­sprüchlichkeit der KPW, das Ausnutzen historischer Situationen als Bestandteile derselben – dies ist doch die Chance, den Kreislauf der Kapital­akkumulation zu durch­brechen: Die Verknüpfung von objektiver Möglich­keit und bewußtem politischen Handeln. Und zur Erkenntnis derartiger Möglich­keiten kann eine Theorie der langen Wellen eine Menge beitragen: so z.B. bei der Analyse von Klassen­kämpfen im Verlauf langer Wellen (vgl. Mandel 1983).

Dies ist nun sicher eine zumindest mittelfristige Perspektive – eine bessere jedenfalls als die Wahl zwischen (Schwarz–) Kohl und „Rotkohl“ (Rau). – Eine revolutionäre Situation steht in absehbarer Zukunft nicht auf der Tages­ordnung. Sie muß erst noch entwickelt werden.